Mittwoch, 8. Januar 2020

Hedwig und Richard Kaempfer (1917-1947)

Hier die biographischen Elemente und Dokumente, die ich über Richard, den Sohn von Anna geb. Heilbronn und Louis Kaempfer (siehe die 4. Posener Urkunde), seine Frau Hedwig geb. Nibler und ihre Tochter Anneliese gefunden habe. Hedwig und Richard sind als politische Aktivisten in München bekannt, daher ist ihr Lebensweg in dieser Hinsicht gut dokumentiert. Über meine eigene Recherche geben vor allem die Anmerkungen Auskunft.

 Richard Kaempfer (1884-1966)

Full Name: Richard Kaempfer
Birth Date: 29 Aug 1884
Death Date: Nov 1966 Cooperstown (USA)
Last Residence: Schenevus, NY
Social Security Card Issued: New York

Geboren: Posen (heute: Poznań/Polen), 29.08.1884
Gestorben: Cooperstown (USA), 10.11.1966
Beruf(e)/Ämter: Kaufmann
Wohnort(e): München
Konfession: israelitisch
Gruppe: Landessoldatenrat/Standort München
Mitgliedschaft im Bayer. Parlament: Provisorischer Nationalrat 1918


Biogramm:    
Bis 1900 Schulausbildung in Posen und Berlin
Zunächst technische Ausbildung in einer mechanischen Werkstatt, anschließend kaufmännische Lehre, danach als Expedient, Buchhalter und Reisender tätig
1910 Beitritt zur Sozialdemokratischen Partei
Ab 1911 Mitglied des Zentralverbands der Angestellten
Bis 1914 Buchhalter in Frankfurt a.Main
Nach zweijähriger Tätigkeit für Großeinkaufsgesellschaft Deutscher Konsumvereine in Gröba-Riesa (Sachsen), Übersiedelung nach München
Ab 1916 in der Münchner Friedensbewegung aktiv
1917 Heirat mit Hedwig Kaempfer
Mitbegründer und USPD-Vorstandsmitglied in München
In der Regierung Kurt Eisner Sekretär des Ministers für Soziale Fürsorge, Hans Unterleitner
1918 Mitglied des Soldatenrats in München
Dez. 1918 Delegierter zum 1. Rätekongress in Berlin (USPD-Fraktion) (Schriftführer beim 1. Rätekongress)
Wegen Teilnahme am Januarstreik 1919 inhaftiert
Jan. 1919-1922 Redakteur der USPD-Zeitungen "Neue Zeitung", "Der Kampf" und "Münchner Morgenpost"
1922-1923 Kontorist der AOK München
1923-1932 Prokurist in einem Münchner Weinimport-Geschäft, anschließend durch Konkurs der Firma arbeitslos
1932 Mitbegründer, ehrenamtlicher Bezirksvorsitzender Oberbayern-Schwaben der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und deren Kandidat für die Landtagswahl in Bayern
1933 unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mehrere Haussuchungen durch die SA - 30.08.1933 Flucht über Österreich und die Schweiz nach Paris, seine Frau und seine Tochter folgen 1934 nach
In Paris als Gelegenheitsarbeiter tätig
1939 bei Kriegsausbruch in verschiedenen Lagern interniert, zum Schluss in der Nähe von Brest. Nach Auflösung des Internierungslagers in Folge der fortschreitenden Besetzung Frankreichs Flucht ins unbesetzte Gebiet, dort vom Flüchtlingskomitée unterstützt
Herbst 1942 aufgrund der beginnenden Judenverfolgung durch die Vichy-Regierung Flucht in die Schweiz, dort als Flüchtling anerkannt, allerdings ohne Arbeitsberechtigung, unterstützt durch das International Rescue Committee in New York
29.08.1945 Emigration in die USA (1). Tätigkeit als Gelegenheitsarbeiter, später als Hausverwalter in New York (2)

GND: 133533883 - Literatur/Quellen 
  • Roß, Sabine (Bearb.), Biographisches Handbuch der Reichsrätekongresse 1918/19, Düsseldorf 2000 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 11), Nr. 1425, S. 156 
http://www.hdbg.de/

Hedwig Kaempfer geb. Nibler (1889-1947)


Kaempfer, Hedwig
Geboren:    München, 23.01.1889
Gestorben:    Paris, 08.01.1947
Beruf(e)/Ämter:    Kontoristin
Wohnort(e):    München
Konfession:    keine Angabe
Gruppe:    Landesarbeiterrat/Revolutionärer Arbeiterrat
Mitgliedschaft im Bayer. Parlament:   
Provisorischer Nationalrat: 1918-1919
Biogramm:   
Ab 1912 im Zentralverband für Angestellte tätig
1917 Heirat mit dem Journalisten Richard Kaempfer, gemeisamer Eintritt in die USPD
1918-1919 Mitglied des Provisorischen Nationalrats (Landesarbeiterrat / Revolutionsausschuss), 25.02.1919-08.03.1919 Mitglied im Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte. Enge Verbindungen zu Otto Graf und Franz Auweck; engagierte Agitatorin für die Räterepublik. Richterin im Revolutionstribunal. Mitgründerin des "Bunds sozialistischer Frauen"
01.05.1919 Verhaftung
Juni 1919 Wahl in den Münchner Stadtrat, Entlassung aus dem Gefängnis
1919-1924 Stadträtin in München (zuerst USPD, dann SPD)
1935 Flucht mit ihrem jüdischen Ehemann Richard nach Paris
Richard Kaempfer emigiert mit der gemeinsamen Tochter in die USA, Hedwig Kämpfer bleibt in Frankreich (3)
Mai 1940 Besetzung Frankreichs, Deportation in das französische Internierungslager Gurs nahe der spanischen Grenze (4)
1943 Flüchtlingslager Begue (5)
1945 nach Kriegsende Rückkehr nach Paris
1947 kurz vor der geplanten Heimkehr nach München verstorben

GND: 121220990 - Literatur/Quellen:
  • Karin Sommer, Flucht - Exil - Lager und der Traum von der Heimkehr: Hedwig Kämpfer, in: Maximilianeum 15 (2003), 6, S. 90 u. 96
  • Manuskript einer Sendung zu Hedwig Kaempfer vom 8.11.1998 auf Bayern2 Radio
https://www.bavariathek.bayern

 [Quelle] (6)

Hedwigs Biographie auf Wikipedia [hier]
Die Tochter eines Münchner Bäckermeisters war ursprünglich Kontoristin beim Zentralverband für Angestellte. 1917 heiratete sie den Kaufmann und Journalisten Richard Kaempfer (1884–1966), der aus einer Posener Familie jüdischen Glaubens stammte. Sie war Mitbegründerin der USPD in München, ab 1918 einzige Frau im Revolutionären Arbeiterrat und Richterin des Revolutionstribunals, während ihr Mann sich im Landessoldatenrat engagierte. Von November 1918 bis Januar 1919 gehörte sie dem Provisorischen Nationalrat an. Weiter war sie Mitgründerin des „Bundes sozialistischer Frauen“. Wie auch Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann versuchte sie nach der Ermordung Kurt Eisners im Frühjahr 1919 zu deeskalieren und trug dazu bei, dass das Revolutionstribunal keine Todesurteile aussprach.

Am 1. Mai 1919 wurde sie wegen ihres politischen Engagements inhaftiert, jedoch wieder freigelassen, nachdem sie im Juni für die USPD in den Stadtrat gewählt worden war. Hedwig Kämpfer gehörte dem Stadtrat bis 1924 an und bekam eine Tochter namens Anneliese. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flohen 1933 erst ihr Ehemann und ihre Tochter nach Paris. 1935 folgte Hedwig Kämpfer nach, blieb aber in Paris, als Richard und Anneliese weiter in die USA emigrierten. Dort schlug sie sich mit Putzarbeiten durch, bis sie 1940 in das Internierungslager Gurs deportiert wurde. Nach Kriegsende wollte sie nach München zurückkehren, starb aber, kurz nachdem sie alle Papiere zusammenbekommen hatte, wegen eines defekten Gasofens.

 Quelle: "privat" (7)


_______________________________

Anmerkungen / Dokumentation

(1) Richard Kaempfer steht auf der Passagierliste des S.S. Magellanes ab Lissabon am 30.7.1945, nach Philadelphia (Pennsylvania) [hier]. - Es folgen diese Angaben:
  • Alter: 61 (60 durchgestrichen)
  • Beruf: Electrician (darüber die Ziffer 314)
  • Sprachen: German, French, English
  • Staatsangehörigkeit: Nothing
  • Race or People: White (Hebrew durchgestrichen) 
  • Geburt: Poland / Posen
  • Visum Nr.:  QIV-2512, ausgestellt in Zürich am 27. Juni 1945
  • Letzte ständige Adresse: France, Gers [siehe unten: Anm. 4]
(2) Der Ort stimmt nicht, da Richard am 28. August 1945 zu seiner Tochter (s.u.) ins Dorf Schenevus (Otsego County, New York State) fuhr und dort seinen Lebensabend verbrachte. Allerdings gab es Onkel und Tanten in New York [siehe: "Die Amerikaner"].

 Eine Kreuzung an der Main Street in Schenevus, heute (Google Street View [hier])


(3) Auch das stimmt so nicht. Folgende Urkunde aus dem Jahr 1945 [hier] gibt zusätzliche Informationen:

  • Wir erfahren nun den Namen der Tochter: Anneliese Schutt. Sie lebte damals schon als verheiratete Frau in Schenevus (NY), und Richard war auf dem Weg zu ihr.
  • Wir können daraus auch schließen, dass sich Hedwig und Richard sehr wahrscheinlich zusammen im Château du Bégué aufhielten (*). - Die Orthographie von Bégué und Cazaubon ist inkorrekt [siehe unten: Anm. 4].
  • Der 28. August 1945 ist Richards Ankunftsdatum in den USA.
 (*) Allerdings habe ich einen Hinweis auf Richards Ankunft in der Schweiz am 28. Oktober 1942  gefunden [hier], der die entsprechende Information des "Biogramms" bestätigt (s.o.).

Siehe auch: Richards Antrag auf die US-Staatsbürgerschaft, 1954 [hier]. Daraus entnehmen wir, dass Annelise (Ann Elisa) Schutt am 16.11.17 in München geboren ist und Richard als 69jähriger Witwer bei den Schutts in Schenevus (Main Street) lebte. Weitere Angaben:
  • Occupation: Handyman
  • Complexion: Fair 
  • Color of eyes. Lt. brown 
  • Color of hair: Grey 
  • Height 5 ft. 3 
  • Weight: 140 pounds 
  • Distinctive Marks: Scars on cheeks
Richards Unterschrift auf dem Antrag von 1954
 

Anneliese Kaempfer Schutt 

Dieses Foto stammt aus der "Absichtserklärung" (Declaration of Intention) vom 3. März 1942 zur Einbürgerung von Tochter Anneliese [hier]. Wir erfahren folgende Lebensdaten der damals 24jährigen Frau:
  • Geboren am 16. November 1917 in München
  • Braune Augen und Haare, 1m55, 60 Kg
  • Geburt der Tochter Margaret am 29.11.1940 in Montauban 
  • Heirat in Montauban (F 82000, Tarn-et-Garonne, France) am 22.3.194? (°)
  • Ehemann: Adam Schutt, geb. in Frankfurt/Main am 4.6.1910
  • Letzter Wohnsitz vor der Einwanderung: Marseille
  • Ankunft von Anneliese und Adam in New York über "Port of Spain Trinidad" auf der SS Acadia am 27.6.1941
  • Erster Wohnsitz in den USA: 212 West 67 (oder 57) Street, New York City
(°) Auf diesem Dokument fehlt die letzte Ziffer des Heiratsdatums. Die Jahreszahl 1941 erscheint auf ihrer undatierten "Petition for Naturalization" [hier]. Dort wird auch die Geburt des Sohnes Richard am 23.12.1942 in New York und die Änderung des Namens in Ann-Elisa Schutt vermerkt. - Sie ist in Alter von 92 Jahren am 21.3.2010 in Chenango (NY) verstorben [hier]. Adam verließ sie schon 1992 [hier]:

Anlässlich von Ann-Elisas Beerdigung erschien diese Nachricht [hier]:
"Schenevus, NY - Ann-Elisa Schutt, 92, passed away Sunday, March 21, 2010 at the Gilmour Healthcare Facility in Norwich. - She was born November 16, 1917 in Germany; the daughter of Richard and Hedwig (Nibler) Kaempfer. - Ann-Elisa married Adam Schutt on March 23, 1940 in France. They moved to the United States in 1941 and to Schenevus in 1945. - She was a language teacher at the Cobleskill Central School where she taught German and French. She graduated from Hartwick College and received her Master’s Degree at Albany State.- Ann-Elisa was a member of the Schenevus Wiaontha Rebekah Lodge 489, the CH Graham Hose Co. Auxiliary, the Schenevus United Methodist Church and the Schenevus Grange where she served as treasurer. - She is survived by her 3 children, Margaret Schutt of Freeport, NY, Richard Schutt and his wife Patricia of Norwich, NY and Michael Schutt of Los Angeles, CA; her grandson Stephen A. Schutt and 4 great-grandchildren."


Auch Richards Grab wird auf dieser Site gezeigt:


Dazu folgender Eintrag:
"Richard Kaempfer, aged 82, of Schenevus, died November 10, at the Mary Imogene Bassett Hospital in Cooperstown, following a short illness. Mr. Kaempfer was born August 28, 1884, in Posen, Germany, the son of Louis and Anna (Heilbronn) Kaempfer. He married Hedwig Nibler in Munich, Germany, in 1917. He had been an accountant most of his life and had resided at Schenevus for 13 years. Surviving are a daughter, Mrs. Ann Elisa Schutt of Schenevus and three grandchildren. Private funeral services were held at 10 a. m. on Saturday, November 12, from the Bennett Funeral Home in Schenevus, with the Rev. Robert Harris, pastor of the Schenevus Methodist Church, officiating. Cremation followed at the Gardner-Earl Crematory in Troy." [The Otsego Farmer (Cooperstown, NY), Thurs., Nov. 17, 1966, Page Six] [hier]

(4) Bei Oloron-Sainte-Marie (F 64190, département des Pyrénées-Atlantiques, damals Basses-Pyrénées). Die nächstgrößere Stadt ist Pau, an der Straße vom Atlantik (Bayonne) nach Toulouse. - Das Internierungslager bestand von 1938 bis zur Libération im August 1944 und danach als Gefangenenlager für deutsche Soldaten. Vor dem Krieg wurden dort Flüchtlinge aus dem Spanischen Bürgerkrieg auf Weisung von Édouard Daladier (1884-1970) interniert. Während der deutschen Occupation wurden hauptsächlich Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft dort gefangen gehalten. Die meisten wurden nach Drancy bei Paris und dann nach Auschwitz abtransportiert. Anscheinend konnten einige von ihnen fliehen oder exfiltriert werden (siehe die folgende Anm.)
(5) Es handelt sich um Bégué, in Cazaubon (F 32150 - département du Gers). Die Prefektur des Gers befindet sich in Auch. Die nächstgrößere Stadt ist Mont-de-Marsan. Allerdings ist das Château du Bégué kein Internierungslager sondern ein Centre d'accueil agricole (Landwirtschaftliches Aufnahmezentrum). Ich lese [hier]:
Das "Schloss" von Bégué ist eine große Residenz, die dem "Christlichen Freundschaftsbund" von Graf und Gräfin d'André zur Verfügung gestellt wurde. In diesem Zufluchtsort waren etwa hundert Juden versammelt, die mehrheitlich aus den Lagern von Gurs und Rivesaltes entkommen waren oder "exfiltriert" wurden.

Le "château" du Bégué est une grande résidence mise à la disposition des Amitiés chrétiennes par le comte et la comtesse d’André. Dans ce refuge étaient regroupés une centaine de Juifs, en majorité évadés ou "exfiltrés" des camps de Gurs et de Rivesaltes.

Die alte Kirche in Cazaubon, heute (Wikipedia [hier])

(6) Das Plakat wurde zur Ankündigung einer Veranstaltung am 26. März 2019 im Münchener Kösk verwendet: Das Leben der Hedwig Kämpfer (1889 – 1947) – Rätin, Richterin und USPD-Frau - RevolutionsWERKSTATT – 100 Jahre Bairische Revolution und Räterepublik.
Mitwirkende:
  • Die Münchener Journalistin Mira Schnoor spürte dem Leben der fast vergessenen Politikerin, die im französischen Exil starb, nach. 1998 machte sie für den BR ein Feature, für das sie u.a. mit Kämpfers Nichte ein Interview führte: Hedwig Kämpfer - Spuren eines Lebens: zwischen Räterepublik, Emigration und Lagerhaft
  • Cornelia Naumann, München, Dramaturgin, Plenum R und Autorin von Der Abend kommt so schnell. Sonja Lerch – Münchens vergessene Revolutionärin (Gmeiner, 2018).
(7) Siehe: Das Leben der Hedwig Kämpfer (1889–1947) – Rätin, Richterin und USPD-Frau - von Adelheid Schmidt-Thomé, in Studienreihe Nr.37/2019, S.12 [hier als pdf]

Weitere Dokumente über Hedwig:

  • Frauen in der Bayerischen Revolution und Räterepublik von 1918/19 [hier]
  • Frauen machen Politik, in: Süddeutsche Zeitung, 29.12.2018 [hier]
  • Die Hedwig-Kämpfer-Straße in München [hier]

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