Mittwoch, 22. Januar 2020

Georg Kaempfer (1883-1942)

  Auf der Suche nach Georg

NB. -  Dies ist der erste Text, den ich für die vorliegende Studie verfasst habe. Dabei stützte ich mich auf die Posener Adreßbücher, denen ich schon einige wichtige Informationen entnehmen konnte. Erst später stieß ich dann auf die vom Archivum Poznań digitalisierten Urkunden, die über die Verwandschaft der unter dem Namen Kaempfer erscheinenden Bürger der jüdischen Gemeinde in Posen Auskunft geben. In diesem ersten Text sind nachträglich nur offensichtliche Fehlinformationen stillschweigend korrigiert oder mit Anmerkungen versehen worden.

Vor einiger Zeit habe ich über ein Hallenser Gedenkbuch (HGB) (1) von einem Georg Kaempfer aus Posen (heute Poznań) erfahren, der am 3. Juni 1942 im KZ Sobibór mit seiner Frau und zwei der drei Töchter ermordet wurde. Ich muss sagen, dass mich diese Nachricht – gelinde gesagt – verstört hat, da alle mir bekannten Familienmitglieder den Naziterror mehr oder weniger unversehrt überstanden hatten.

Also nahm ich Verbindung zu anderen Homonymen auf und bekam auch prompt eine Antwort von Prof. Raymond Kaempfer aus Jerusalem, dessen Vater Heinz (1904-1986) ebenfalls in Posen geboren ist. Allerdings konnte für seine und meine Posener Vorfahren bislang kein gemeinsamer Ahn ermittelt werden. Vor allem aber bleibt unsere Beziehung zu Georg unklar.

Das Gedenkbuch gibt nur spärliche Auskünfte: Am 29. Dezember 1883 in Posen geboren, ist Georg aus unbekannten Gründen und zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt nach Saarbrücken gezogen, wo er sich mit seiner Frau Herta (2) als Kaufmann etablierte (3), bis die Familie am 28. September 1939 – also einen Monat nach dem Überfall auf Polen – freiwillig oder zwangsweise nach Halle übersiedelte (4). Von dort wurden Georg, Herta, sowie die Töchter Evelyne und Marion (5) am 1. Juni 1942 mit einem aus Kassel kommenden Zug abtransportiert und nach zweitägiger Reise über Lublin anscheinend schon bei ihrer Ankunft im Todeslager ermordet. Eine dritte Tochter – Inge – konnte noch rechtzeitig nach Palästina fliehen. Das Gedenkbuch nennt ebenfalls die Namen von Georgs Eltern: Sie hießen Yitzchak und Sara (6).

* * * 


Den Posener Adreßbüchern (PAB) zufolge war Georgs Vater Isaak ab 1872 als Kurzwarenhändler, später auch als Kaufmann (1876) in der Wasserstraße 13, dann (1885) als Inhaber einer „Pfandleih-Anstalt“ in der Wasserstraße 12 und von 1910 bis 1917 dort als „Hausbesitzer“ gemeldet. – Was Georg selbst betrifft, bleiben viele, wenn nicht alle Fragen derzeit noch unbeantwortet: Man könnte meinen, dass er seine zehn Jahre jüngere, 1893 im benachbarten Schwersenz geborene Frau Herta noch in Posen kennenlernt. Das könnte in den 1910er Jahren geschehen sein. Aber würde dann der schon etwa dreißigjährige Georg nicht auch als Berufstätiger im PAB erscheinen? Aus diesem Grund ist es durchaus denkbar, dass er die Stadt schon früh verlassen hat und Herta erst später, vielleicht anlässlich eines Verwandtenbesuchs getroffen hat. In den PAB findet man unter ihrem Mädchennamen nur eine Schuhwarenfabrik der Gebrüder Bergheim (Bruno und Max). Allerdings sind die Einwohner des zehn Kilometer entfernten Schwersenz nicht im PAB verzeichnet, was wiederum dafür spricht, dass sich Georg dort oder in einem anderen Städtchen der Provinz Posen niedergelassen haben könnte. Jedenfalls ist es ziemlich sicher, dass Georg von Posen aus nicht schnurstracks nach Saarbrücken gegangen ist, sondern sich zuerst woanders aufgehalten hat, vielleicht auch um zu studieren. Das 270 Kilometer entfernte Berlin kommt jedoch nicht in Frage, da in den BAB um die Jahrhundertwende zwar ein Maler und Dekorateur namens Georg Kämpfer erscheint, der aber 1933 auch noch in der Hauptstadt gemeldet ist. Und wir wissen ja, dass zwei der drei Töchter (Evelyne und Marion) 1922 bzw. 1925 in Saarbrücken geboren sind und die Familie dort bis 1939 gelebt hat. .- Nebenbei bemerkt ist anzunehmen, dass Georg und wahrscheinlich auch Herta – zum Beispiel im Fall ihrer doch naheliegenden Verwandtschaft mit den Gebrüdern Bergheim – den wohlhabenderen Kreisen der Posener Gesellschaft angehörten und sich als Jugendliche nicht allzu große Sorgen um ihre Zukunft gemacht haben dürften. 

Auch spielen der Erste Weltkrieg (7) und seine Folgen eine nicht zu unterschätzende Rolle in dieser Geschichte. Dabei ist nicht zu vergessen, dass der bei Kriegsausbruch dreißigjährige Georg wehrpflichtig (8) war. Saarbrücken liegt an der Grenze zu Lothringen, das nach dem Versailler Vertrag (9) wieder zu Frankreich gehört. Auch das damalige „Saargebiet“ – zwischen 1920 und 1935 vom Völkerbund verwaltet – wird in den französischen Wirtschaftsraum eingebunden. Erst nach der Volksabstimmung vom 13. Januar 1935 ist das Gebiet wieder Teil des Deutschen Reiches und damit dem Naziterror ausgeliefert. – Auf der anderen Seite geht Posen im Zuge der Freiheitskämpfe ab 1919 erneut an Polen: Angesichts der, wie es heißt, „ethnischen Spannungen“, die von Ende Dezember 1918 bis Februar 1919 die Provinz unsicher machen, bleibt einem Großteil (5/6) der deutschen Bevölkerung nur die Flucht. 

Wenn Tochter Evelyne am 22. Januar 1922 geboren ist, so bleibt das Geburtsdatum der wahrscheinlich ältesten Tochter Inge (10) noch ungewiss. Auch die Umstände und den genauen Zeitpunkt ihrer Flucht nach Palästina kennen wir nicht. War es vor der Zeit der Novemberpogrome von 1938, als die Saarbrücker Synagoge in Brand gesetzt wurde? Aber warum sind Georg und seine Familie auch danach noch in Nazideutschland geblieben?

Eine am 23. Juni 2017 aktualisierte Seite [hier] liefert folgende neue Informationen über Georg:

Sohn von
Isaac Kaempfer (*1833 Września / Wreschen)
und Helmine Kaempfer (*18. August 1842 Poznań / Posen † 4. November 1889, ebd. – Tochter von Michaelis und Dorothea Loewissohn)
Bruder von
Martin Kaempfer (* 1. Januar 1868* Posen / Poznań);
Hugo Kaempfer (*11. April 1869 Posen);
Lucie Kaempfer (*19. Mai 1871 Posen – Ehefrau von Max Deutsch);
Hedwig Kaempfer (*4. November 1871 Posen – Ehefrau von Sigi[s]mund Deutsch)
und Ludwig Kaempfer (* 7.  Mai 1878 Posen)
Ehemann von
Herta Gerta Kaempfer, geborene Bergheim, am 14. Februar 1893 in Schwersenz (heute Swarzędz), etwa zehn Kilometer östlich von Posen gelegen. – Tochter von Max Markus Bergheim und Rosa / Rosalie Bergheim – Schwester von Anni / Anna Feibelmann geb. Bergheim, * 9. August 1898 in Swarzędz / Schwersenz bei Poznań, † etwa 1941 in Riga, verh. m. Eugen Feibelmann (*29.4.1892 in Meddershem und †18.3.1936 in Sobernheim, beide Städte in Rheinland-Pfalz, aus dieser Ehe zwei Kinder: Tochter Hannelore [Hana Bustan] und Sohn Hans-Hermann [Chanan Peled], beide in Sobernheim [respektive am 6.5.1922 und 10.7.1927] geboren und in Israel [1985 und 2003] gestorben)
Vater von
Inge Elna Kaempfer (*20. Mai 1915 Saarbrücken † 20. Februar 1977, Kiryat Bialik, Haifa, Israel – Ehefrau von Arthur Aron Emanuel Arnon [Warenhaupt]);
(Irmgard) Evelyne Kaempfer und Marion Kaempfer (Daten siehe oben)

Dieser Genealogie-Eintrag regt zu weiteren Recherchen über Georgs Familie an:
  • Herta Kaempfers Vater Max Bergheim war in der Tat Miteigentümer einer Schuhwarenfabrik in Posen, was die Zugehörigkeit Hertas zu den wohlhabenderen Kreisen der Posener Gesellschaft bestätigt.
  • Die 1893 geborene Herta hatte eine fünf Jahre jüngere Schwester Anni, die einen in Sobernheim lebenden Eugen Feibelmann heiratete und sich ebenfalls dort etablierte. In diesem Städtchen gab es eine größere jüdische Gemeinde und eine 1858 erbaute Synagoge [hier], was für die Religiosität der Familie zu sprechen scheint.
  • Wir erfahren nun auch Geburtsort und -datum der ältesten Tochter Inge: Demnach hatte sich die Familie schon vor (oder spätestens bei) Beginn des „Großen Krieges“ in der Grenzstadt niedergelassen und lebte nach dem Versailler Vertrag bis Januar 1935 unter Mandat des Völkerbundes mit Einbindung in das französische Zoll- und Währungsgebiet. Angesichts des dann einsetzenden Naziterrors wird der Entschluss gefasst worden sein, Inge die Flucht über Frankreich zu ermöglichen.
  • Auch Annis beiden Kinder konnten noch rechtzeitig über Frankreich nach Palästina fliehen. Bei einer erneuten Recherche bin ich auf die sehr aufschlussreichen Erinnerungen von ihrem Sohn, Hans-Hermann Feibelmann [Chanan Peled] gestoßen, die hier als PDF zu lesen sind.
  • Nachdem der zwölfjährige Hans-Hermann und die siebzehnjährige Hannelore in Sicherheit waren (ab 24.8.1939), wurde Anni mit ihrer Mutter nach Köln umgesiedelt und von dort am 7.12.1941 nach Riga deportiert und ermordet. Chanan erwähnt zwar die Heirat seiner Tante Herta mit Georg, gibt aber leider keine Auskunft über dessen Posener Familie.
  • Nicht zuletzt könnten Georgs zahlreiche Geschwister (drei Brüder und zwei Schwestern, beide mit einem Deutsch verheiratet) neue Spuren auftun.
In der Tat ergab eine weitere Recherche, dass Georgs drei Brüder Martin, Hugo und Ludwig Kaempfer sukkessive in die USA ausgewandert und amerikanische Staatsbürger geworden sind, wie folgende Einträge in den U.S. Naturalization Record Indexes (1791-1992) belegen:
  • Name: Martin Kaempfer | Birth: Germany 5 Jan 1868
    Civil: 4 Apr 1901 | Arrival: 1883 | Residence New York
  • Name: Hugo Kaempfer | Birth: Germany 11 Apr 1869
    Civil: 18 Jun 1896 | Arrival: 1886 | Residence New York
  • Name: Ludwig Kaempfer | Birth: Germany 7 May 1878
    Civil: 4 Apr 1901 | Arrival: 1893 | Residence New York
Da der Naziterror gegen die deutschen Bürger jüdischen Glaubens ab 1933 (Januar 1935 in Saarbrücken) immer brutaler wurde, stellt sich nun die Frage mit mehr Nachdruck: Warum ist Georg nicht zu den älteren Brüdern nach New York oder über Frankreich nach Palästina geflohen?
 

  Ermordung



„Einwohnerbuch“ der Stadt Saarbrücken 1934-35 [hier]
Georg erscheint gleich zweimal, das 2. Mal unter „Kampfer“
(Hat das Zeichen * eine Bedeutung?)

Dieses Adressbuch „nach dem Stande von Juni 1934“ muss kurz vor der fatalen Volksabstimmung vom 13. Januar 1935 erschienen sein. Das Vorwort der zum „Reichsverband der Adreßbuch-Verleger“ gehörenden „Verlagsanstalt der Gebr. Hofer“ ist auf November 1934 datiert. Neben dem unbestimmten „Kaufmann“ haben wir nun eine präzisere Vorstellung von Georgs beruflichen Aktivitäten: „Strickwaren-Vertretungen“ (frz.: bonneterie).

 Stolpersteine für Herta, Evelyne, Marion und Georg Kaempfer
Am 10.3.2010 in Saarbrücken verlegt [hier]

Wie ich auf meiner Suche nach Georg erfahren musste, wurden mindestens drei weitere Posener Kaempfers von den Nazis ermordet – Hedwig, Johanna und Gustav. Die folgenden - maschinell erstellten und hier sprachlich korrigierten - Einträge befinden sich auf der Seite der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem [hier]
  • Hedwig Deutsch wurde im Jahr 1871 [als Hedwig Kaempfer in Posen] geboren. Während des Krieges war sie in Gruessau, Deutsches Reich und wurde mit [dem] Transport IX/1 von Breslau, Niederschlesien, Deutsches Reich nach Theresienstadt, Ghetto, Tschechoslowakei am 26.07.1942 deportiert. – Hedwig wurde in der Schoah ermordet (Ihr Sohn Helmuth wurde ebenfalls ermordet)
  • Johanna Herrmann, geb. Kaempfer wurde 1890 in Posen, Polen geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Berlin, Deutsches Reich. Während des Krieges war sie in Piaski, Polen. – Johanna wurde in der Schoah ermordet.
  • Gustav Kaempfer wurde im Jahr 1864 geboren. Während des Krieges war er mit [dem] Transport XVIII/5 von Oppeln, Oberschlesien, Deutsches Reich nach Theresienstadt, Ghetto, Tschechoslowakei am 21.04.1943 deportiert worden. – Gustav wurde in der Schoah ermordet (Seine Frau Paula geb. Mottek wurde ebenfalls ermordet)
Nach obigem, durch die Posener Urkunden bestätigten Genealogie-Eintrag war Hedwig Georgs Schwester. Über ihn und seine Familie erfahren wir auf Yad Vashem nichts Neues. Auch über Johanna und Gustav gibt Yad Vashem keine weiteren Auskünfte. – Aber zu Gustav fand ich diesen Eintrag im 1937er Adreßbuch von Oppeln [hier]:


Und eine (kostenpflichtige) Genealogie-Seite [hier] gibt immerhin Folgendes an:

Gustav Kaempfer (geboren … 1864) war der Sohn von Paul Kaempfer (*16. April 1836, in Wreschen)  und Pauline Kaempfer (geb. Gensler, 1840 in Posen).
Gustav hatte 2 Geschwister: Felix Kaempfer und …
Gustav war mit Paula Kaempfer (geb. Mottek, 10. Juli 1873, in Wronke) verheiratet.
– Sie hatten einen Sohn: Ludwig Kaempfer [7.1.1901-29.8.1947, s.u.]
Gustav starb 1943 …

Wenn diese Angaben der Wahrheit entsprechen, müssen Prof. Raymonds Informationen (s.o.) ein wenig korrigiert werden, denn Dr. med. Gustav war allem Anschein nach ein (nicht erwähnter) Bruder von Dr. Felix Kaempfer, und ihr Vater Paul wurde 1836 in Wreschen (und nicht 1840) geboren.

Auch erfahre ich [hier], dass Gustavs Sohn Ludwig 1930 in Breslau, Weidenstraße 5, wohnte. Bei der Volkszählung vom 17.05.1939 war er in Berlin-Tiergarten (heute Moabit), in der Perleberger Straße 35 (Vorderhaus, 1. Stock) gemeldet. Nach der gleichen Quelle [hier] wurde er vom 24.09.1938 bis 4.10.1938 in Dachau, danach in Buchenwald inhaftiert. – Wie aber konnte er aus Buchenwald entkommen und sich nach Kanada absetzen, wie sein Grabstein in Montréal (Québec, Kanada) zu belegen scheint? (11)

Ludwigs Grabstein [hier]
Ich habe meinen Freund Paul gebeten, die hebräische Inschrift zu übersetzen:
"Leyzer, Sohn des Avraham", gefolgt vom Datum des Todes auf Hebräisch.

Dieselbe Quelle gibt ebenfalls Auskunft über Dr. med. Gustav Kaempfer: Am 29.08.1864 in Posen geboren – Studium an der Universität Würzburg – Wohnort am 17.05.1939: Sedanstr. 18 – Oppeln (Grunwaldzka 18 – Opole / Woj. opolskie) – Datum der Deportation: 21.04.1943 ab Oppeln nach Theresienstadt – Ermordung: 30.10.1943 (ID-Nr. aus der 1939er Volkszählung: VZ316915).

Und über Hedwig Deutsch, geborene Kaempfer am 4.11.1871 in Posen, erfahren wir, dass sie [mit Sigismund Deutsch] zwei Kinder hatte: Hellmuth (*1894) und Ruth (*1896), beide in Breslau geboren. Dort war Hedwig noch 1930 als Rentnerin in der Opitzstr. 7  gemeldet (zur gleichen Zeit wie Gustavs Sohn Ludwig). – Wohnort am 17.05.1939: Kürassierstr. 49 bei Brasczok / Stkrs. Breslau (heute: Aleja Generała Józefa Hallera 49 Wrocław) – Deportation: 27.07.1942 ab Breslau – Inhaftierung: Grüssau /Sammellager – Ermordung: 2.09.1942 in Theresienstadt (Terezín) (ID-Nr. aus der 1939er Volkszählung: VZ010453).

Über Johanna Herrmann, geborene Kaempfer am 9.12.1890 in Posen, stellt die Volkszählung fest, dass sie am 17.05.1939 in Berlin-Schmargendorf (Wilmersdorf), in der Kissinger Straße  9 wohnte. – Am 28.03.1942 wurde sie ins Ghetto von Piaski bei Lublin deportiert. – Ort und Datum ihrer Ermordung sind nicht angegeben (ID-Nr. aus der 1939er Volkszählung: VZ082268).


Vorläufiges Fazit



Ich muss gestehen, dass es mir am Herzen liegt, die Wahnvorstellung einer „reinen Rasse“ als ideologisch gesteuerte Lüge zu entlarven, da sich die Menschen seit Urzeiten immer vermischt haben, wie es z.B. Svante Päabo (vom Max-Planck-Institut in Leipzig) schon anhand des Genflusses zwischen Neandertaler und Sapiens bzw. Denisova nachweist (2010/18).  – Die Schrift von Gobineau – Essai sur l’inégalité des races humaines (Paris 1855) – ist ein Meilenstein in der Geschichte des modernen Rassismus (12): Der Autor greift den Überlegenheitsgedanken alter Kulturen auf – wobei man berücksichtigen muss, dass der Kolonialismus damals Hochkonjunktur hatte (Eroberung Algeriens durch Frankreich ab 1830) – und verwandelt diesen zivilisatorischen Superioritäts-Komplex in eine biologistisch-rassistische Weltanschauung, die auf der Fiktion einer „arischen Rasse“ beruht. Die Nazi-Ideologen brauchten dann nur noch eine phantasmatische „Herrenrasse“ auf den Plan zu rufen, um die schlimmsten Ausgrenzungen, Plünderungen und Massenmorde zu legitimieren. Als Gegenpol zu dieser Fiktion wurden Menschen, die sich in erster Linie als freie Staatsbürger ihrer Länder fühlten, und teils den jüdischen Glauben bewahrt hatten, teils zum Protestantismus übergetreten oder aber Atheisten waren, als Angehörige einer „jüdischen Rasse“ stigmatisiert, denen in Form einer Verschwörungstheorie „Kosmopolitismus“ und „feindliche“ Interessen unterstellt wurden, nach dem Schema der in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert sehr einflussreichen Sozialisten, die als „vaterlandslose Gesellen“ gebrandmarkt wurden. Zum „Untermenschen“, der wie der frühere Sklave behandelt werden durfte, blieb nur noch ein kleiner Schritt, der im Nu vollzogen wurde. Im Vorspann des Ende November 1940 in deutschen Kinos gezeigten Propagandafilms „Der Ewige Jude“ heißt es:

„Die zivilisierten Juden, welche wir aus Deutschland kennen, geben uns nur ein unvollkommenes Bild ihrer rassischen Eigenart. Dieser Film zeigt Originalaufnahmen aus den polnischen Ghettos, er zeigt uns Juden, wie sie in Wirklichkeit aussehen, bevor sie sich hinter der Maske des zivilisierten Europäers verstecken.“ [hier]

Aber hier ist nicht der Ort, solche Gedanken auszuführen. Was mich betrifft, bin ich sowohl mütter- als väterlicherseits über Generationen hinweg das „reinste“ Produkt so genannter „Mischehen“. Und hier ist auch nicht der Ort, von meiner Stettiner Großmutter zu berichten, die den Naziterror in Berlin nur dank ihrer Heirat mit einem „Christen“ und ihren vier Kindern überlebte. Mitsamt ihrer Mutter, meiner Urgroßmutter, konnte ihre Schwester ebenfalls rechtzeitig ins benachbarte Schweden fliehen. –  Georg jedoch harrte in Saarbrücken bis zu Beginn des Krieges aus, um dann mit seiner Familie nach Halle zu übersiedeln (13). Drei Jahre blieben sie dort. Dann lese ich [hier]:

Bis 1941 sind vermutlich zwei Drittel der in Halle ansässigen Juden ausgewandert; die meisten der fast 600 Personen emigrierten nach Shanghai, England, in die USA und nach Palästina. Deportationen Hallenser Juden begannen vermutlich Ende Mai 1942; bereits ab April liefen in der Stadt die Vorbereitungen für diesen ersten Deportationstransport; dazu mussten sich die betroffenen Juden im jüdischen Gemeindehaus einfinden, um hier den Hausrat aufzulisten und eine Vermögenserklärung abzugeben. Insgesamt sollen im April 1942 etwa 100 Juden Halles „in den Osten“ deportiert worden sein; alte Menschen wurden meist nach Theresienstadt gebracht; zwei Transporte gingen Mitte September und Dezember 1942 ab.

Georg, Herta, Evelyne und Marion sind nicht nach Palästina, Shanghai, England, oder in die USA ausgewandert, sondern wurden am 1. Juni 1942 in einen – wie die Todesakte besagt – aus Kassel kommenden Zug gesperrt und nach Sobibor – wahrscheinlich über Leipzig, Dresden, Breslau und Lublin – verschleppt, wo sie möglicherweise schon bei ihrer Ankunft zwei Tage später ermordet wurden. Wikipedia schreibt:

Mitte April 1942 wurden etwa 250 Juden aus einem nahegelegenen Arbeitslager bei einer „Probevergasung“ umgebracht. Anfang Mai bis Ende Juli 1942 wurden wahrscheinlich bis zu 90.000 Juden „fabrikmäßig“ getötet; danach musste die Aktion unterbrochen werden. Am 16. Juli 1942 beschwerte sich der Persönliche Adjutant Heinrich Himmlers, SS-General Karl Wolff, beim Staatssekretär Albert Ganzenmüller über Gleisbaureparaturen auf der eingleisigen Strecke zum Vernichtungslager Sobibor. Dieser versprach, die Transportkapazitäten in andere Vernichtungslager zu steigern und die Arbeiten bis Oktober abzuschließen. In Sobibor wurde diese Zeit genutzt, um die drei vorhandenen Gaskammern durch zusätzliche Räume zu erweitern und die Kapazität damit auf etwa 1.200 Opfer zu verdoppeln.

 Georg in Saarbrücken (oder schon in Halle?) – Quelle unbekannt

Links unten erscheint die spiegelverkehrte Ziffer 35, welche auf die Saarbrücker Adresse in der Mainzer Str. 35 (bis zum 28.09.1939) verweisen könnte. Im Jahr der Saarländischen Volksabstimmung (am 13. Januar 1935) war Georg etwas über 51 Jahre alt. Aber sein schönes Lächeln strahlt einen natürlichen Optimismus aus, der in Anbetracht der hereinbrechenden Katastrophe wie eine Erinnerung an gute alte Zeiten wirkt und wahrscheinlich auch als solche aufbewahrt wurde.


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Anmerkungen



(1) Das HGB war ursprünglich ein Schülerprojekt. Siehe: http://www.gedenkbuch.halle.de/vorwortde.php
(2) Geborene Bergheim, am 14. Februar 1893 in Schwersenz (heute Swarzędz), etwa zehn Kilometer östlich von Posen gelegen.
(3) Letzte bekannte Adresse: Mainzer Str. 35
(4) Letzte bekannte Adresse: Königstr. 18, bei Brasch.
(5) Beide in Saarbrücken geboren, Evelyne am 22. Januar 1922 („Gartenpraktikantin“ seit dem 1.10.1940, eigene Adresse zunächst Kl. Ulrichstr. 19 bei Baden, zuletzt Hindenburgstr. 34) und die Schülerin Marion am 22. März 1925. Laut HGB war Marion an den beiden gleichen Adressen wie Evelyne gemeldet, obwohl das 1942 erst siebzehn Jahre alte Mädchen doch eigentlich noch bei ihren Eltern hätte wohnen müssen.
(6) Die Posener Urkunden geben Auskunft über Georgs Eltern: Helmine geb. Lewinsohn (*18.8.42 in Posen - †4.11.89) und Isaak Kaempfer (*1833 in Wreschen)
(7) Deutsche Kriegserklärung am 1. und 3. August 1914 an Russland und Frankreich. Waffenstillstand am 11. November 1918.
(8) Wie alle Untertanen des Deutschen Reichs zwischen dem 17. und 45. Lebensjahr.
(9) Am 28. Juni 1919 unterzeichnet und am 10. Januar 1920 in Kraft getreten.
(10) Als Frau Inge (Ilana) Warenhaupt lebte sie ab 1948 in Israel.
(11) Was Gustavs Sohn Ludwig angeht, ist die Sache höchst mysteriös, denn ich lese auf Yad Vashem, dass er schon in Buchenwald umgebracht worden sein soll [hier]. Auch habe ich diese beiden Einträge über ihn gefunden:

Dachau, Register-Nr.: 18671 (21.9.1938). Stand: Ledig. Kinder: Keine. Beruf: Makler.
Religion: Mosaisch. Adresse: Berlin-Charlottenburg [hier]

Und hieraus (Dachau, Camp Records, Prisoner Lists) könnte der Transport nach Buchenwald (4.10.1938 - nach nur 10/14 Tagen Aufenthalt in Dachau) hervorgehen.

Das bestätigt folgenden Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs [hier]: 
Kämpfer, Ludwig, geboren am 07. Januar 1901 in Oppeln / Schlesien, wohnhaft in Berlin (Tiergarten), Inhaftierung: 24. September 1938 - 04. Oktober 1938, Dachau, Konzentrationslager,  04. Oktober 1938, Buchenwald, Konzentrationslager.
Ein weiterer Fund belegt Ludwigs Entlassung aus Buchenwald. Siehe: Der Fall Ludwig
 
Dieselbe Quelle gibt auch Ort und Datum der Ermordung von Ludwigs Eltern Paula (am 22. Juni 1943) und Gustav (30. Oktober 1943) in Theresienstadt an.

(12) Eine rezente Entdeckung hat mich etwas überrascht [hier]:


 Warum hieß die Tochter von Sig[is]mund und Hedwig Deutsch "Kaempfer"? Der Vorname "Frances" wird wie so oft die Amerikanisierung ihres deutschen (mir unbekannten) Vornamens sein. Georgs Bruder Hugo, der hier über ihren frühen Tod am 10.1.1943 informiert, wird bei ihrer Etablierung in den USA geholfen haben: In der Tat erscheint sie anlässlich der 1940er Volkszählung in Mount Vernon (Westchester), wo auch ihr Onkel Hugo wohnt, als Bedienste der Familie Hagmann.


Die an Tuberkulose (Consumption) erkrankte Frances arbeitet 50 Wochenstunden als "maid" und verdient 550 USD. Da sie angibt, verheiratet zu sein, müssen wir davon ausgehen, dass ihr Mann "Kaempfer" heißt. Am 1. April 1935 wohnte sie noch in Hamburg: also dürfte ihre Auswanderung mit der Verfolgung durch die Nazis zusammenhängen. Im Hamburger Adressbuch von 1933 [hier] erscheinen mehrere Personen unter diesem Namen, ohne dass wir daraus Schlüsse ziehen können. Auch unter "Deutsch" gibt es keinen relevanten Eintrag. - Hat sie ein amerikanisches Familienmitglied geheiratet, vielleicht nur zum Schein, um ihre Einbürgerung zu erleichtern? Auch ist sie zum Zeitpunkt ihres Todes im Januar 1943 verwitwet ("W" für "Widow" / Witwe, s.o.). Zudem sind von Sigismund und Hedwig nur zwei in Breslau geborene Kinder - Helmuth (*1894) und Ruth (*1896) - angegeben [hier]. Eine 1902 geborene Tochter ist nicht bekannt: Könnte es sich um Ruth handeln, die ihren Vor- und Nachnamen, sowie ihr Geburtsdatum geändert hat?

(13) Im Zuge des Kolonialismus zielte Gobineaus Schrift allerdings nicht auf die "Minderwertigket" einer "jüdische Rasse", sondern auf die Inferiorität der "Schwarzen" (in Afrika) und "Gelben" (in China, Siam oder "Indochina"). - Den Höhepunkt des vor der Dreyfus-Affäre (1894-1906) aufflammenden "Antisemitismus" (Begriffsbildung von Marr, 1879) erreichte Edmond Drumonds La France juive (Paris 1886) mit seinen schon im ersten Jahr verkauften 62.000 Exemplaren ...
(14) In der anlässlich der Verlegung der Saarbrücker Stolpersteine für Herta, Georg, Evelyne und Marion verfassten Kurzbiografie steht: "Die Familie Kaempfer wurde nach Halle zwangsumgesiedelt" [hier].

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