Freitag, 10. Januar 2020

Berlin, Oktober 1942

Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung (*)

von Hans Kaempfer


In einer lauen Oktobernacht des Jahres 42 ging ich nach einer kurzen U-Bahnfahrt zu Fuß in meine Wohnung heim. Vom Bayrischen Platz aus durch die Speyerer Straße hatte ich gut zehn Minuten. Ich war allein. Meine Frau hatte Wagners Götterdämmerung (1) nicht hören wollen. Ihre Opposition erstreckte sich im Gegensatz zu meiner freisinnigen Anschauung auf alle Kunstdarbietungen, die das Regime als Vorspann für seine Ziele benutzte. Ob der Gedanke daran mich bewegte, kann ich nicht sagen, doch bedrückte mich in der nächtlichen Stille ein unklares Schuldgefühl. Daß ich die Einladung eines befreundeten, von der "Bewegung" merklich angekränkelten Musikkritikers (2) zu einem Gläßchen Wein angenommen und lange mit ihm zusamnmengesessen hatte, könnte eher der Grund gewesen sein. Der Kollege, erheblich jünger als ich, erzählte in einem Ton unglaubhaften Entsetzens von einer Informationsreise Berliner Redakteure in das besetzte Polen, wo ihnen der berüchtigte Gouverneur Frank schamlos offene Einblicke in sein brutales Regiment und seine 'einmalig wirksamen Justizmethoden' gegeben hatte. An den Pforten des Warschauer Gettos war den prominenten Kulturbeauftragten gezeigt worden, wie "hoffnungslos dieses Elendsvolk von Renegaten verraten und verkauft und offensichtlich nichts Besseres wert war als die Massenliquidationen der schwarzen und braunen Büttel". Ich war mir mit dem Zechkumpan einig gewesen, daß Gouverneur Frank ein Bluthund und Schänder des deutschen Namens sei. Doch merkte ich wohl: der Musikkritiker war seelisch ziemlich unangefochten von seiner Höllenfahrt zurückgekehrt. Die geharnischte Verurteilung, die sein Chef (3) nach Anhörung des ungeheuerlichen Reiseberichts aussprach, hatte dem Musikreferententen "außerordentlich imponiert", besonders die gewagte Prophezeiung, solche Ausschreitungen würden gewiß nicht ungesühnt bleiben. Ich hatte dem Kollegen von der Musik nicht darin zugestimmt, im Zeitalter der Verrmassung und der praktisch notwendigen Gewaltenteilung müsse die ressortmäßige Verantwortung ebenso teilbar sein. Doch war mein Widerstand bei seinem weinseligen Gerede schmählich erlahmt.
     Aber nein, eine andere verborgene Ursache störte mich beim Gang durch die menschenleeren Straßen. Meine zittrige Unruhe wuchs zu beklemmender Vorahnung, begabte mich zu einer krankhaft überreizten Hellhörigkeit. Ich meinte, in den hohen Miethäusern der Straßenzeile ein Rumoren zu vernehmen. Und es kamen etliche, hitzig tuschelnde Menschen zu zweien oder mehreren an mir vorbei. Die starrten mich musternd an und blickten mir anzüglich nach, so, als ob mein nächtliches Wandern gänzlich ungehörig sei. Es konnte eine der häufigen Razzien im Gange sein. Die Stunden nach Mitternacht wurden mit Vorliebe für die zwielichtigen Fahndungen der allgegenwärtigen Polizeigarden gewählt. In die breite Luitpoldstaße einbiegend, sah ich zu beiden Seiten Möbelwagen stehen. Ich glaube, es waren drei. Auch vor unserem Haus stand einer, und mir fiel ein: wir befanden uns im Bayrischen Viertel, den von Juden bevorzugten Ortsteil. In unserem Haus wohnten allein drei jüdische Familien mit Kindern. Mit dem Opernregisseur Lazarus (4), zwei Stockwerke über uns, waren wir gut bekannt. Unsere Kinder hatten eine Zeitlang mit den beiden Töchtern freundschaftlich verkehrt. Eva, die ältere, eine vielbewunderte blonde Schönheit, die einmal in der Bahn von einem gesetzten Herrn als Muster des deutschblütigen Mädchens belobt worden war, worauf die Mutter kalt pariert hatte, ihre Eva sei hoffnungslos jüdisch, war vor einem Jahr nach Palästina entronnen. Aber der musikbesessenen Herr Lazarus fühlte sich den Deutschen und uns Berlinern voran gänzlich zugehörig. Als Heine-Verehrer hatte für ihn das Deutsche Reich ewigen Bestand. Er repetierte noch jetzt eifrig doch unerlaubt mit den Sängern der Staatsoper in seiner Wohnung und dachte nicht ans Auswandern, hatte es wohl auch längst verpaßt, hätte die hohe Gebühr für das englische affidavit sicher nicht mehr aufgebracht.
      Ich dachte dies alles, bevor noch das nächtliche Geschehen Gestalt annahm. Ich entdeckte dann: der Möbelwagen war von braunen Uniformierten bewacht. Um einen verspäteten Umzug handelte es sich also nicht. Die vage Idee baute ein paar Sekunden meinem Schrecken vor: in Berlin war von jeher das Unglaublichste möglich. Auch bei meinem fluchtartigen Umzug aus der Provinz (5) war der Möbelwagen erst nach Mitternacht vor unserem Haus erschienen und die Packer hatten unverschämte Trinkgelder aus meinem letzten Geldvorrat erpreßt. Nein, bei Gott, dies war aber kein Umzug von Haus zu Haus.
     Jetzt kam der alte Herr Gumpel (6) vom dritten Stock des Gartenhauses aus der Tür zur Straße, der Literat, dessen krampfhafte Hoffnungen auf Hitlers baldigen Sturz ich noch kürzlich bei einem Gespräch auf der Treppe in törichter Weise bestärkt hatte. An einem schweren Koffer mehr zerrend als schleppend taumelte er auf den Gehsteig. Total erschöpft setzte der alte Mann den Koffer auf dem Pflaster ab. Ich stand auf der anderen Straßenseite, nahe bei einer Laterne. Er hob eine Hand gegen mich, es war ein kurzes Winken. Sein Blick sprach von keinem Vorwurf. Ich nickte ganz schwach zurück, in dem bleichen Licht konnte es kaum zu sehen sein. Ich traute mich nicht, hinüberzugehen, mich zu dem "Judenhaus" zu bekennen. Doch eine der Wachen lief zu mir hin und fragte mich barsch, was ich hier zu suchen hätte. Ich sagte: ich wohne dort. Und der Braune fuhr mich an, wo ich mich mitten in der Nacht herumtreibe ? ob ich vielleicht auch Jude sei ? Nein, stammelte ich. In diesem Moment wünschte ich mir wahrhaftig einer zu sein (7). Ich dachte an Roland Engelhardts tragisches Trotzbekenntnis (8). Aber das war nur einer der vielen frommen Wünsche, die wie brüchige Herbarienpflanzen in unserem Gehirn eingepreßt sind. "Nein", sagte  ich entschieden und zeigte bereitwillig meinen Ausweis vor, aus dem meine Behördentätigkeit hervorging. Der Braune fuhr mich erneut an, warum ich dann nicht ins Haus ginge und hier 'Maulaffen feilhalte'. Ich überquerte darauf die Straße, genau in dem Augenblicke, als Herr Lazarus mit seiner Frau und der zwölfjährigen Ursel aus der Haustür kamen. Das Kind schluchzte still vor sich hin. Herr Lazarus streifte mich mit einem Blick, nicht so langsam, daß ich aus ihm hätte lesen können, und doch so haftend, dáß ich seinen Gedanken brennen fühlte wie die Glut aus einer Vernichtungskammer: Ich habe mich also in euch getäuscht, dachte der Korrepetitor des Ensembles der Deutschen Staatsoper.
     Ich konnte noch nicht gleich ins Haus gehen. Die Büttel scheuten sich sekundenlang das weinende Kind vorwärtszustoßen Der Weg zur Haustür war solange versperrt, bis Frau Lazarus die Tochter durch eine Umarmung getröstet hatte. Dann fiel ihr Blick auf mich. In diesen Tagen hatte mir meine Frau bekümmert gesagt, sie verstehe nicht, warum Frau Lazarus auf einmal so abweisend gegen sie sei, wo wir doch alles getan hatten, unsere judenfreundlichen Gefühle zu zeigen. Wir hätten doch geradezu waghalsig unsere Teilnahme bewiesen, wären sogar auf der Straße bei ihnen stehengeblieben, und die Ursel hätte immer zu unseren Kindern kommen können. Und doch traf mich jetzt Frau Lazarus' Blick voller Abscheu. Kein Aufschrei des Fluches hätte seine Beredsamkeit zu überbieten vermocht. Blicke sind so wenig zu beschreiben wie das Wirken eines Blitzes, der einen ohnmächtig hinstreckt. Doch in unserer größten Not vermögen wir Augenblitze von unfehlbarer Gerechtigkeit zu schleudern: 'Warum rufst du nicht, du elend-feiger Christ, haltet ein, ihr Mörder, bei allen guten Geistern !'
     Ja, ich wußte, ich war dann ein toter Mann. Bequeme Entschuldigung: auch Petrus bekannte sich nicht zu Jesus, als die Angst um sein Leben ihn umklammert hielt. 'Ich kenne den Menschen nicht', sagte er zu den Mägden. Erst als der Hahn dreimal krähte, besann er sich, weinte und ward zum Märtyrer.
      Wo aber waren meine - unserer Tränen, als der Völkermord zum Himmel schrie, die Ausrottung der erwählten Rasse, deren Heilige den lebendigen Gott entdeckt und die Fackel der Erkenntnis von Jerusalem bis Thule vorangetragen hatten ? – Ich herrschte die braunen Häscher nicht an, hieb keinem von ihnen ein Ohr ab. Setzte mich nicht der geringsten Gefahr aus. Mit dem Amtsausweis in der Tasche stand ich an den sicheren Gestaden des Höllenflusses und blickte mit Millionen Versklavter in gemäßigter Erschütterung auf das schwärzlich-rote Gewässer, dessen blutiger Schaum zu unseren Füßen leckte.
      Ich ging ins Haus, zu Frau und Kindern. Zögernd, viel später sprach ich von dem Schauder jener Nacht.

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Anmerkungen


(*) Dies ist ein Auzug aus dem unveröffentlichen Roman Die Moabiterin, an dem Hans in der Nachkriegszeit gearbeitet hat. Der Titel ist die Überschrift des 45. Kapitels, das mit diesem ergreifenden Bericht schließt. Die Orthographie wurde nicht an die heutigen Gepflogenheiten angepasst. Zu den Veröffenlichungen meines Großvaters als Autor und Übersetzer, siehe: Hans Kaempfer
(1) Bislang habe ich keine Daten zu dieser Berliner Aufführung der Wagner-Oper gefunden. Am 21. Juli 1942 wurde sie unter Leitung von Karl Elmendorff im Festspielhaus Bayreuth als Live-Mitschnitt aufgenommen.
(2)  Es handelt sich um den stark belasteten Werner Oehlmann [hier]. In Wirklichkeit betrug der Altersunterschied zwischen Hans (1896-1974) und Oehlmann (1901-1985) nur 5 Jahre. Seine Anwesenheit mag für das "Niveau" dieses Konzertabends sprechen.
(3) Folgt der durchgestrichene Passus: "der ehrenwerte Paul Fechter" [hier].
(4) Der Name Lazarus ist hier wohl christlich-symbolisch zu verstehen. Auch mein Vater Wolfgang hat ihn gekannt und nennt ihn den "alten Aron" im Interview über seine Kindheit [hier]. Sein wirklicher Name - P. Suchy, Musikmeister - könnte aus diesem Adressbuch hervorzugehen:
Siehe auch: Johanna & die Berliner - Wenn das Datum stimmen sollte, wären die Familien aus dem Haus in der Luitpoldstraße 36 entweder mit dem 21. oder 22. Transport (19. bzw. 26. Oktober 1942) nach Riga deportiert worden. Insgesamt wurden in beiden Transporten 963 + 800 = 1763 Menschen verschleppt. Ihre Namen erscheinen auf den Transportlisten  [hier] und [dort]. Ich habe sie dort nicht gefunden. Und die Recherche über einen Musikmeister Suchy trug bisher keine Früchte. Das genaue Datum der Deportation könnte auch über die Aufführung der Götterdämmerung zu ermitteln sein.
Zusatz: In der Tat hieß der Musikmeister Aron und war wohl unter einem falschen Namen im BAB eingetragen. [Hier] die Daten, die ich gefunden habe:

Aron, Isaak Isaac Julius, geboren am 19. Dezember 1886 in Lupowske / Bütow / Pommern, wohnhaft in Berlin (Schöneberg). Deportation: ab Berlin 26. Oktober 1942, Riga. Todesdatum: 29. Oktober 1942. Todesort: Riga

Aron, Lucie, geboren am 14. April 1894 in Würzburg / Bayern, wohnhaft in Berlin (Schöneberg). Deportation: ab Berlin 26. Oktober 1942, Riga. Todesdatum: 29. Oktober 1942. Todesort: Riga

Aron, Eva, geboren am 21. Februar 1926 in Berlin / Stadt Berlin, wohnhaft in Berlin (Schöneberg). Deportation: ab Berlin 26. Oktober 1942, Riga. Todesdatum: 29. Oktober 1942. Todesort: Riga

Warum Hans hier die Namen geändert hat, kann ich nicht sagen. Nur der Vorname Eva erscheint im Text, allerdings bezogen auf die ältere [Tochter], die [...] vor einem Jahr nach Palästina entronnen [war]".
(5) Mein Großvater kam mit seiner Familie 1934 von Braunschweig nach Berlin.
(6) Der wahre Name dieses "Literaten" ist mir nicht bekannt.
(7) Ohne den gefälschten "Ariernachweis" wäre mein Großvater als "Halbjude" eingestuft worden. In der Folge benutzt der Ich-Erzähler christliche Referenzen, um seine Ohnmacht zu beschreiben.
(8) Roland Engelhardt ist eine der Hauptfiguren der Moabiterin, die am Vorabend des 1. Weltkriegs beginnt. - Auch die Ankunft in Berlin ("Askanischer Platz 1934") wird erzählt. Und es ist von einer Posener (sowie Wreschener) Vergangenheit die Rede. - Es wird von einem SA-Überfall auf Roland im "sozialistischen Arbeiterverein" berichtet. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten werden mehrere Hausdurchsuchungen durch die SA in Richard Kaempfers  "Biogramm" vermerkt. Er war einer von Johannas Brüdern und somit ein direkter Vetter von Hans: Die Anspielung auf ihn ist also durchaus möglich. Das wiederum spräche dafür, dass er die Kinder seines Onkels Louis kannte. Ich erinnere mich jedoch nicht, dass er mir je von ihnen erzählt hätte. Auch mein Vater hat sie nie erwähnt und ich bezweifle, dass er überhaupt von ihnen gewusst hat.

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