Dienstag, 28. Januar 2020

Die Posener Urkunden (1870-1919)

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Diese erste der Posener Urkunden (1) [Nr. 855] gibt Auskunft über Emilie geb Lachmann (*1820 in Wreschen - †20.10.1887) und Cohn Kaempfer (*1821 in Wreschen - †23.02.1901), sowie über ihre beiden in Posen geborenen Söhne Isaak (*18.6.1847) und Louis (*28.3.1851). Was die Religionszugehörigkeit der Eltern und Kinder betrifft, wird in diesem und allen folgenden Dokumenten "mos[aisch]" vermerkt.
Die angegebenen Adressen entziffere ich wie folgt:
  • 20.11.71 Markt 60 und Breslauer Str. 35
  • 20.10.87 Markt 91
  • 06.02.85 Bismarckstr. 7
  • 07.01.88 Petristr. 6 - Weber
     
    2

    Die zweite Urkunde [Nr. 854] betrifft die Heirat von Emilie und Cohns drittem Sohn Jacob (*31.1.53 in Posen) mit der am 28.8.1860 in "Süd-Carolina" geborenen Anna Bowmann. Ihre Töchter heißen Emilie (*19.12.85? in Posen) und Rosa Isabella (*4.3.87 in Posen).
    Die Angaben rechts oben sind schwer zu entziffern. Die erste Zeile gibt vielleicht das Datum der Heirat an. Ich lese den 5/1 85 und die Adresse des Gewerbes: St.Martinstr. 33. Die Adressen rechts unten entsprechen denen der 1. Urkunde [Nr. 854]. Hinzu kommt nun der wahrscheinliche Umzug der Familie nach Berlin am 29.10.[18]91.
    3

    Die dritte Urkunde [Nr. 856] gibt Auskunft über die drei jüngsten Söhne von Emilie und Cohn:
    • Abraham (*22.3.55) und Moritz (*14.5.57) sind beide in Posen geboren und am 7.1.1887 nach Amerika ausgewandert.
    • David (*5.4.59) ist ebenfalls in Posen geboren und am 16.5.1878 nach Berlin gezogen. 
     Die Adressen oben rechts betreffen wohl Jacob:
    • 03.05.88 St.-Martinstr.8 - Gurski
    • 01.10.94 Gr[oße] Gerberstr. 53
    • 11.06.96 Sapiehaplatz 3
    _______________________________________

    Diesen ersten drei Urkunden zufolge müssen die Daten aus der überliefertem Familiengeschichte ("GPK") (2) leicht korrigiert werden:
    • Cohn ist nicht 1820 (2.4.) sondern 1821 geboren und am 23.2. (nicht am 11.9.) 1901 gestorben.
    • Emilie ist am 20.10.1887 (und nicht am 30.10.1886) gestorben.
    • Mein Urgroßvater David ist am 5. (nicht am 19.) April 1859 geboren.
    Wir erfahren auch, dass Davids Brüder Abraham und Moritz am 7. Januar 1887 in die USA ausgewandert sind, und David Posen schon am 26. Mai 1878 in Richtung Berlin verlassen hat. GPK schreibt jedoch: "Als 19-jähriger [also auch im Jahr 1878] inscribierte er sich an der Universität Marburg, wo er Naturwissenschaften (Physik und Chemie) studierte. Hier  machte er bei Prof. Melde seine Doktorarbeit und promovierte 1883 mit summa cum laude zum Dr. phil." Kurz vor seinem einjährigen Militärdienst in Posen (1883/84) wurde er Assistent an der TU Braunschweig, wo er ab 1887 als Optiker beim Kamerafabrikanten Voigtländer tätig war [hier].

    Zu untersuchen wären die etwas widersprüchlichen Angaben zu Jacob. Einerseits vermerkt die erste Urkunde einen Umzug nach Berlin am 29. Oktober 1891 und andererseits erscheinen nach diesem Datum weitere Posener Adressen im dritten Dokument. Nach den Adreßbüchern von 1886, 1891 und 1894 [hier] wohnt Paul Kaempfer am Sapiehaplatz 3 (1894 lautet sein Vorname ausnahmsweise Saul). Jacobs "Wäschehandlung" (1886), bzw. "Wäsche-Fabrik und Leinen-Lager" (1891) befindet sich am Alten Markt Nr. 1 bzw. 4. Und die Wohnung von Jacobs Familie ist in der Bismarckstr. 7 (1886) und dann am Alten Markt 88 (1891). Danach erscheint er in der Tat nicht mehr namentlich in den Posener Adressbüchern. - Auch seine Heirat mit der in South Carolina geborenen Anna Bowman(n) ist interessant: Es ist gut möglich, dass Jacob nach einem Aufenthalt in Berlin mit seiner Frau und den Töchtern ebenfalls in die USA ausgewandert ist.

    4

    Die 4. Urkunde  [Nr. 859] dokumentiert die Heirat von Anna geb. Heilbronn (*25.5.56, Inowrazlaw, heute Inowrocław) mit Emilies und Cohns Sohn Louis Kaempfer am 26.7.82 in Annas Geburtsort, sowie die Geburt ihrer beiden Sohne in Posen: Hans (11.6.83) und Richard (29.8.84) (3).
    Die Adressen rechts unten befinden sich am Markt 44 (10.10.88), in der St.-Martinstr. Nr. 26 (22.10.88) und Nr. 33 (6.10.91), der Langestr. 3 (6.4.94) und der Schützenstr. 5 (8.10.95).
    5

    Die an die vorige anschließende 5. Urkunde  [Nr. 860] vermerkt die Geburt von zwei weiteren in Posen geborenen Kindern von Anna und Louis: Emil (7.2.89) und Johanna (9.12.90) (4). - Außerdem erfahren wir eine weitere Posener Adresse (St.-Martin[str.] 1 am 5.10.96) und den Umzug der Familie nach Berlin am 19.11.96.
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    Die 6. Urkunde [Nr. 857] bezieht sich auf das Ehepaar Helmine geb. Lewinsohn (*18.8.42 in Posen - †4.11.89) und Isaak Kaempfer (*1833 in Wreschen). Über der Zahl 1833 erkennt man ein zweites Geburtsdatum (3.7.34).Die Zeile darunter könnte lauten: "Am 14.5.17 im Jüd. Krankenhaus gestorben". In der Tat erscheint Isaak noch im Posener Adreßbuch des Jahres 1917 (mit sehr wahrscheinlich auf 1916 bezogenen Daten) als Hausbesitzer in der Wasserstraße 12. Zwei Söhne dieser Ehe werden angeführt: Martin (*1.1.68) und Hugo (*11.4.69). Unten erkennt man ein Auswanderungsdatum nach Amerika (25.7.90). Beim anderen (13.11.90) wird vermerkt: "ohne Abmeldung angeblich nach Amerika". - Am 15.10.66 ist Isaak in der Gr. Gerberstr. 44 gemeldet, dann in der Wasserstraße 13 (siehe dazu die Adreßbücher: nach der Nr.13 wohnt die Familie in der Nr.12). - Die anderen Daten sind schwer zuzuordnen...
    7

    Dass es sich bei der 7. Urkunde  [Nr. 858] um vier weitere Kinder von Helmine und Isaak handelt kann aus der Nummer des Dokuments sowie aus der Adresse in der Wasserstr. 12 geschlossen werden.
    • Hedwig (*4.2.71 in Posen) heiratet Sigismund Deutsch am 20.3.93 in Breslau.
    • Lucie (*19.5.76 in Posen) heiratet Max Deutsch am 26.8.97 in Chemnitz
    • Ludwig (*7.5.78 in Posen)
    • Georg (*29.12.83 in Posen)
    Der frühe Tod der Mutter, die Auswanderung der beiden ältesten Söhne und die Heirat der Töchter machen wahrscheinlich den Aufenthalt der beiden Jüngsten in Chemnitz notwendig. Über Georg erfahren wir nun, dass er sich am 13.11.1902 in Breslau und schon am 8.1.1909 im Saarland aufhält. Am 14.5.1912 scheint er dann endgültig nach Saarbrücken gezogen zu sein. (5)
    8


    Aus der 8. Urkunde  [Nr. 851] geht die Heirat von Herta geb. Bergheim (*14.2.1893 in Schwerenz) und Georg Kaempfer am 19.1.1914 und die Geburt ihrer ersten Tochter Ingeborg am 20.5.1915 in Saarbrücken hervor. Die Daten und Orte rechts unten sind schwer verständlich und betreffen vielleicht ein Hin-und-Her in den Wirren des 1. Weltkrieges. Man kann die Eigennamen "Saarbrücken" und "Bergheim", sowie folgende Datumsangaben erkennen: 4.6.16 - 15.8.16 - 13.3.17. Das Wort "Sohn" ist zweimal durchgestrichen und durch "Tochter" ersetzt.
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    Die 9. Urkunde zu den Posener Kaempfers [Nr. 865] betrifft die Eheleute Pauline geb. Gensler (*2?.10.1840 in Posen - †13.8.1891 in Berlin) und Paul Kaempfer (*16.4.1836 in Wreschen - †?1.5.1919 in Posen), sowie zwei ihrer Söhne: Gustav (*29.8.1864 in Posen) und Felix (*29.5.1869 in Posen).
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    Die anschließende 10. Urkunde [Nr. 866] gibt Auskunft über die Tochter Martha (*15.5.1873 in Posen) aus der Ehe von Pauline und Paul. Darunter [Nr. 815] werden Marthas in Berlin geborene Kinder Edgar (*23.1.98) und Paula (*28.7.99) aus der Ehe mit Hugo Krebs genannt. Es handelte sich wohl nur um einen sehr kurzen Abstecher nach Posen zwischen dem 3. und 7.4.1915 bei Felix Kaempfer in der Wittingstr. 12. Danach ist Martha anscheinend nach Berlin zurückgekehrt.
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    Die 11. Urkunde [Nr. 853] betrifft die Heirat am 2. oder 4. März 1896 in Posen von Paula geb. Mottek (*10.7.73) und Pauls Sohn Gustav Kaempfer, der hier als "praktischer Arzt" angeführt wird (6). - Bevor er seine Praxis in Oppeln eröffnet, scheint er mit seiner Frau im Oktober 1884 nach Berlin gezogen sein.
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    Und hier die 12. und vorerst letzte Urkunde [Nr. 849] über die Heirat  am 1.2.03 in Hirschberg von Käthe geb. Ledermann (*25.3.81 in Königshütte) mit Pauls Sohn Felix Kaempfer (Rechtsanwalt), sowie über die Geburt in Posen der beiden Söhne Heinz Martin (*20.4.04) und Otto Hans (*18.9.06 - †18.10.18). Unter dem Geburtsdatum von Heinz wird die Abreise nach Berlin am 7.12.1919 vermerkt (7).

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    Anmerkungen

    NB. - Mehrere Posener Kaempfers tragen den gleichen Vornamen:
      • Isaak (*1833 Wreschen), Vater von Martin, Hugo, Hedwig, Lucie, Ludwig und Georg
      • Isaak (*1847 Posen), Sohn von Emilie oo Cohn
      • Louis oo Sarah, Eltern von Max Kaempfer (*1847 Wreschen - †1910 New York)
      • Louis (*1851 Posen), Sohn von Emilie oo Cohn
      • Jacob (*1845 Wreschen - †1906 New York), Sohn von Sarah oo Louis, Bruder von Max
      • Jacob (*1853 Posen - †1932 New York), Sohn von Emilie oo Cohn
      • Ludwig (*1878  Posen - †1921 New York), Sohn von Isaak (*1833)
      • Ludwig (*1901 in Oppeln - †1947 Montréal?), Sohn von Paula oo Gustav
    [Siehe auch: Die Amerikaner

      (1) Die Posener Urkunden aus den Jahren 1870 bis 1931 können unter folgender Adresse abgerufen werden: e-kartoteka.net. - Die Erkläuterung des Projekts hier auf Englisch. Dank an Arnold Chamove für den Hinweis auf diese Quelle und natürlich an das Archiwum in Poznań. Allerdings habe ich auf meine Anfrage nach früheren Urkunden folgende Antwort (am 13.1.2020) erhalten (automatische Übersetzung aus dem Polnischen):
      "Das Staatsarchiv in Poznań teilt mit, dass es in seinen Archivbeständen keine metrischen Aufzeichnungen der jüdischen Gemeinde in Poznań aus der Zeit des XVIII. bis XIX. Jahrhunderts gibt. Daher können wir keine Suche nach den für Sie interessanten metrischen Datensätzen durchführen." Prof. Dr. Krzysztof Stryjkowski (Stellv. Direktor)
      (2) Der elfseitige, maschinengeschriebene Bericht von Gerhard Petzold dokumentiert den Stammbaum von Sarah und Adolf Philipp über Emilie und Cohn zu David und seinen Nachkommen. Gerhard und mein Vater Wolfgang Kaempfer sind Davids Enkelsöhne. Auszüge auf den Seiten über David Kaempfer und die  Ursprünge.
      (3) Als SAPD-Mitglied und Aktivist 1933 politisch verfolgt, gelingt Richard Kaempfer die Flucht über Paris. Während der deutschen Besatzung ab 1940 werden er und seine ebenfalls politisch aktive Frau Hedwig verhaftet und interniert, dann aber exfiltriert und in Sicherheit gebracht. Nach der Befreiung geht Hedwig fürs Erste zurück nach Paris, wo sie Anfang 1947 anscheinend wegen eines defekten Gasofens stirbt. Richard ist im August 1945 über New York zur gemeinsamen Tochter Anneliese nach Schenevus (Otsego County, NY State) gefahren, wo er seinen Lebensabend verbringt.
      (4) Am 28.03.1942 wurde Johanna Herrmann geb. Kaempfer von Berlin ins Ghetto von Piaski bei Lublin deportiert. Ort und Datum ihrer Ermordung sind unbekannt (siehe Yad Vashem). - Im Auftrag des American Museum of Natural History (Elsie Naumburg) bereist Emil Kaempfer zwischen 1926 und 1931 Brasilien und lässt sich später in São Paulo nieder. Der Kaempferspecht (Celeus obrieni) ist nach ihm benannt.
      (5) Georg Kaempfer wurde am 3. Juni 1942 im KZ Sobibór mit seiner Frau und zwei der drei Töchter ermordet. Seine Schwester Hedwig Deutsch geb. Kaempfer wurde am 26.07.1942 von Breslau nach Theresienstadt deportiert und dort umgebracht, wie auch ihr Sohn Hellmuth Deutsch.
      (6) Dr. med. Gustav Kaempfer wurde mit seiner Frau Paula (geb. Mottek in Wronke) von Oppeln, wo er noch 1936/37 seine Praxis hatte, am 21.04.1943 nach Theresienstadt deportiert. Beide wurden dort ermordet. Nach einem Grabstein zu urteilen [hier], konnte ihr Sohn Ludwig Kaempfer (1901-1947) nach einer Inhaftierung in Dachau und Buchenwald, nach Kanada entkommen. Allerdings ist diese, noch zu recherchierende Geschichte höchst rätselhaft. Auch ist es möglich, dass er der Verfasser einer der wenigen kritischen Buchbesprechungen bei Erscheinen von Mein Kampf ist (in Abwehrblätter 35.Jg.Nr. 19/20 vom 20.10.1925). In Anbetracht dessen, was wir heute wissen, täuscht er sich natürlich, wenn er schließt:
      "Man legt Hitlers Buch mit einem Gefühl der Befriedigung beiseite: Solange die völkische Bewegung keine anderen Führer an ihre Spitze zu stellen weiß, solange werden noch manche Wasser ins Meer fließen, bis sie im Land der Dichter und Denker siegen wird." [hier]
      Man spürt hier die Verbundenheit vieler deutscher Bürger aus der jüdischen Gemeinde mit ihrer Heimat, und das Vertrauen, das sie damals noch in Deutschland hatten. Wie mein Großvater aus den Jahren nach 1933 in Berlin berichtet, hatte sein Nachbar Aron - Konzertist und Verehrer von Heinrich Heine - noch lange nach der Machtergreifung geglaubt, dass sich die Situation im "Land der Dichter und Denker" ändern würde...
       (7) Ich lese auf zwei holländischen Datenbanken [hier] und [dort], dass Käthe geb. Ledermann am 19.11.1943 in Auschwitz ermordet ist. Felix erscheint zwar dort auch, aber er soll nach dem Umzug aus Posen schon früh in Berlin gestorben sein...

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