Freitag, 31. Januar 2020

Vorwort (2020)

Die auf diesen Seiten präsentierte Recherche über die Familie Kaempfer betrifft nicht nur die Menschen, sondern auch die Orte und Zeiten, in denen sie gelebt haben: Als „historische Hauptstadt Großpolens“ (1) war das tausendjährige Poznań ab der 1. Polnischen Teilung (1772) einem stetigen Wandel ausgesetzt, da es bei Ende der Napoleonischen Kriege (1815) zur Metropole der preußischen, dann deutschen Provinz Posen avancierte, nach dem „Großen Krieg“ und den Freiheitskämpfen wieder an Polen ging, während des 2. Weltkrieges von Nazideutschland besetzt wurde und seit 1945 Teil der Polnischen Republik ist. Zur preußisch-deutschen Zeit existierten dort mit- oder nebeneinander drei Bevölkerungsgruppen: die katholische Mehrheit der polnischen Einwohner, eine zunehmende Anzahl an deutschen Protestanten und die schon seit dem 13. und 14. Jahrhundert ansässige Minderheit jüdischen Glaubens.

Nach der überlieferten, jedoch nicht durch Urkunden belegten Familiengeschichte (2) kam der „Fuhrknecht“ Adolf Phillip Kaempfer (1744-1817), Sohn des im Raum Stralsund ansässigen „Bauern und Gutsverwalters" Johann Kaempfer (1689-1756) (3), von „Schwedisch Pommern“ nach Posen, konvertierte im Jahr 1779 zur jüdischen Religion durch seine Heirat mit Sarah Wendel (1756-1801) und befasste sich fortan mit „Tuch- und Spezereiwaren“ [siehe dazu: Mutmaßungen über die Ursprünge]. Zahl und Namen der Nachkommen dieser Ehe bleiben zu ermitteln: Beim jetzigen Stand der Untersuchung gehe ich allerdings davon aus, dass alle Kaempfers, die vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert in der jüdischen Gemeinschaft der Provinz Posen gelebt haben, in verwandtschaftlicher Beziehung zueinander stehen. Bislang kenne ich vier Zweige:
  • Cohn Kaempfer (1821-1901), Sohn von Henriette geb. Loewe (1787-1841) und Jacob Kaempfer (1786-184?) ist ein Enkel von Sarah und Adolf Phillip.
  • Eine weitere Linie führt über Isaak (*1833) und Helmine geb. Lewinsohn (1842-1889) (4) zu Georg Kaempfer (1883-1942), der mit seiner Frau Herta geb. Bergheim (*1893 in Schwerenz) und den beiden Töchtern Evelyne (*1922) und Marion (*1925) in Sobibor umgebracht wurde. Dieses durch Zufall entdeckte Ereignis aus einer vergangen geglaubten Zeit gab den Ausschlag für die vorliegende Recherche. In der Folge erfuhr ich, dass auch Georgs - mit Sigismund Deutsch verheiratete - Schwester Hedwig (1871-1942) sowie ihr Sohn Hellmuth (*18.12.1894 in Breslau) nach Theresienstadt deportiert und ermordet wurden.
  • Ein dritter Zweig führt zu Paul Kaempfer (1836-1919), dessen verwandschaftliche Beziehung zu Cohn und Isaak zu ermitteln wäre [siehe dazu die Posener Adressbücher]. Wie ich erst vor kurzem erfahren habe, wurde Sohn Gustav (1864-1943) mit seiner Gattin Paula geb. Mottek (*1873) von Oppeln nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Auch Käthe geb. Ledermann (1881-1943), die mit Pauls anderem Sohn Felix (1869-1920) verheiratet war, wurde in Auschwitz umgebracht.
  • Aus der Ehe von Sarah und Louis Kaempfer gehen zwei in Wreschen geborene Söhne hervor, die sich früh in Amerika etabliert haben: Jacob (*1845) kam anscheinend schon 1861 in New York an und Max (*1848) folgte im Juni 1871 (über Australien) (5).

Dienstag, 28. Januar 2020

Die Posener Urkunden (1870-1919)

1

Diese erste der Posener Urkunden (1) [Nr. 855] gibt Auskunft über Emilie geb Lachmann (*1820 in Wreschen - †20.10.1887) und Cohn Kaempfer (*1821 in Wreschen - †23.02.1901), sowie über ihre beiden in Posen geborenen Söhne Isaak (*18.6.1847) und Louis (*28.3.1851). Was die Religionszugehörigkeit der Eltern und Kinder betrifft, wird in diesem und allen folgenden Dokumenten "mos[aisch]" vermerkt.
Die angegebenen Adressen entziffere ich wie folgt:
  • 20.11.71 Markt 60 und Breslauer Str. 35
  • 20.10.87 Markt 91
  • 06.02.85 Bismarckstr. 7
  • 07.01.88 Petristr. 6 - Weber
     
    2

    Die zweite Urkunde [Nr. 854] betrifft die Heirat von Emilie und Cohns drittem Sohn Jacob (*31.1.53 in Posen) mit der am 28.8.1860 in "Süd-Carolina" geborenen Anna Bowmann. Ihre Töchter heißen Emilie (*19.12.85? in Posen) und Rosa Isabella (*4.3.87 in Posen).
    Die Angaben rechts oben sind schwer zu entziffern. Die erste Zeile gibt vielleicht das Datum der Heirat an. Ich lese den 5/1 85 und die Adresse des Gewerbes: St.Martinstr. 33. Die Adressen rechts unten entsprechen denen der 1. Urkunde [Nr. 854]. Hinzu kommt nun der wahrscheinliche Umzug der Familie nach Berlin am 29.10.[18]91.
    3

    Die dritte Urkunde [Nr. 856] gibt Auskunft über die drei jüngsten Söhne von Emilie und Cohn:
    • Abraham (*22.3.55) und Moritz (*14.5.57) sind beide in Posen geboren und am 7.1.1887 nach Amerika ausgewandert.
    • David (*5.4.59) ist ebenfalls in Posen geboren und am 16.5.1878 nach Berlin gezogen. 
     Die Adressen oben rechts betreffen wohl Jacob:
    • 03.05.88 St.-Martinstr.8 - Gurski
    • 01.10.94 Gr[oße] Gerberstr. 53
    • 11.06.96 Sapiehaplatz 3
    _______________________________________

    Samstag, 25. Januar 2020

    Die Posener Adressbücher (1862-1917)

    NB. - In der Chronologie der vorliegenden Recherche wurde dieser Text nach - und teilweise parallel zu - den Ausführungen über Georg verfasst. Aber erst durch die vom Archivum Poznań digitalisierten Urkunden konnten die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Posener Kaempfers etwas besser bestimmt werden.
    Die Stadt Poznań hatte die gute Idee, über Internet alte „Adreßbücher“ zur Verfügung zu stellen (1), denen ich einige interessante Informationen entnehmen konnte, zumal es sich bei dem ab 1872 dort eingetragenen Isaac Kämpfer (2) sehr wahrscheinlich um Georgs Vater handelt. Beim Studium dieser Posener Adressbücher (PAB) bemerkte ich auch die wechselnde Schreibweise des Nachnamens – Kempfer (PAB 1862), Kämpfer (PAB 1879, 1885), Kaempfer (PAB 1876, 1886ssq.) – und nicht zuletzt die erstaunliche Verwandlung des Vornamens meines Ururgroßvaters Cohn in John (PAB 1872), der ich auf einer späteren – im Zuge des Naziterrors gefälschten – Urkunde noch einmal begegnen sollte.

    Ich möchte nun die Erkenntnisse zusammenfassen, die ich durch das Studium dieser wichtigen Dokumente gewinnen konnte: Die von der Stadt Poznań digitalisierten und im Internet abrufbaren Adressbücher umfassen die Zeit von 1835 bis 1917, wobei bis zum Jahrgang 1872 nur drei Ausgaben verfügbar sind (1835, 1844, 1862). Vorab jedoch die beiden mir zu Anfang dieser Recherche bekannten Zweige der Posener Kaempfers, ohne welche die nachstehenden Ausführungen schwer verständlich wären. Prof. Raymond Kaempfer aus Jerusalem war so freundlich, mir die ihn betreffende Posener Familiensequenz mitzuteilen (3):

    Kaempfer, Getreidehändler („Pan Pariscu“), ? – ?
    Paul Kaempfer, Kaufmann, 1840 – 1919
    Dr. Felix Kaempfer, Rechtsanwalt, 1869 – 1920 (Berlin), 2 Brüder (Gunther und Otto)
    Heinz Kaempfer 1904 – 1986 (Den Haag, Vater von Raymond)

    Und hier meine eigene, aus Gerhard Petzolds "Kaempfer-Story" (GPK) (4)  hervorgehende und ebenfalls auf den Raum Posen beschränkte Sequenz:

    A—Adolf Phillip Kaempfer, „Fuhrknecht, später Tuch- und Spezereiwaren“
    1744 (Pommern) – 1817 (5).
    1779 Übertritt zum Judentum und Heirat in Posen mit Sarah Wendel (1756–1801) (6)
    B—Jacob Kaempfer, „Tuch- und Seidenhändler“, 1786 (Wreschen) (7) – 184?
    1816 – Heirat in Posen mit Henriette Loewe (1787-1841), 1 Sohn:
    C.—Cohn (auch „John“) Kaempfer, Schneidermeister, 1820 (Wreschen) – 1902
    1846 – Heirat in Wreschen mit Emilie Lachmann (1820 – 1886), 6 Söhne, 1 Tochter
    D—Dr. David Kaempfer, Physiker und Unternehmer, 1859 – 1940 (Braunschweig, mein Urgroßvater) (8) 

    Mittwoch, 22. Januar 2020

    Georg Kaempfer (1883-1942)

      Auf der Suche nach Georg

    NB. -  Dies ist der erste Text, den ich für die vorliegende Studie verfasst habe. Dabei stützte ich mich auf die Posener Adreßbücher, denen ich schon einige wichtige Informationen entnehmen konnte. Erst später stieß ich dann auf die vom Archivum Poznań digitalisierten Urkunden, die über die Verwandschaft der unter dem Namen Kaempfer erscheinenden Bürger der jüdischen Gemeinde in Posen Auskunft geben. In diesem ersten Text sind nachträglich nur offensichtliche Fehlinformationen stillschweigend korrigiert oder mit Anmerkungen versehen worden.

    Vor einiger Zeit habe ich über ein Hallenser Gedenkbuch (HGB) (1) von einem Georg Kaempfer aus Posen (heute Poznań) erfahren, der am 3. Juni 1942 im KZ Sobibór mit seiner Frau und zwei der drei Töchter ermordet wurde. Ich muss sagen, dass mich diese Nachricht – gelinde gesagt – verstört hat, da alle mir bekannten Familienmitglieder den Naziterror mehr oder weniger unversehrt überstanden hatten.

    Also nahm ich Verbindung zu anderen Homonymen auf und bekam auch prompt eine Antwort von Prof. Raymond Kaempfer aus Jerusalem, dessen Vater Heinz (1904-1986) ebenfalls in Posen geboren ist. Allerdings konnte für seine und meine Posener Vorfahren bislang kein gemeinsamer Ahn ermittelt werden. Vor allem aber bleibt unsere Beziehung zu Georg unklar.

    Das Gedenkbuch gibt nur spärliche Auskünfte: Am 29. Dezember 1883 in Posen geboren, ist Georg aus unbekannten Gründen und zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt nach Saarbrücken gezogen, wo er sich mit seiner Frau Herta (2) als Kaufmann etablierte (3), bis die Familie am 28. September 1939 – also einen Monat nach dem Überfall auf Polen – freiwillig oder zwangsweise nach Halle übersiedelte (4). Von dort wurden Georg, Herta, sowie die Töchter Evelyne und Marion (5) am 1. Juni 1942 mit einem aus Kassel kommenden Zug abtransportiert und nach zweitägiger Reise über Lublin anscheinend schon bei ihrer Ankunft im Todeslager ermordet. Eine dritte Tochter – Inge – konnte noch rechtzeitig nach Palästina fliehen. Das Gedenkbuch nennt ebenfalls die Namen von Georgs Eltern: Sie hießen Yitzchak und Sara (6).

    * * * 

    Samstag, 11. Januar 2020

    Johanna und die Berliner

     Johanna
     

    Johanna Herrmann, geborene Kaempfer, ist am 9. Dezember 1890 in Posen als jüngstes Kind von Anna und Louis Kaempfer zur Welt gekommen und somit eine Cousine meines Großvaters Hans Kaempfer (*21. Dezember 1896, Braunschweig). Über die Volkszählung vom 17. Mai 1939 erfahre ich, dass sie in der Kissinger Straße 9, in Berlin-Schmargendorf (Wilmersdorf), gemeldet war (1). Drei Jahre später, am 28. März 1942, wird sie mit ihrem Gatten Erich Herrmann (*6.2.1878, Berlin) ins Ghetto von Piaski bei Lublin deportiert (2). Dort oder im Vernichtungslager Belzec wurden beide zu einem unbestimmten Zeitpunkt umgebracht. Soviel ich weiß, hat in meiner Familie nie jemand ein Wort über ihr Schicksal verloren. Ich kann jedoch nicht glauben, dass mein Großvater, der seit 1934 in Berlin lebte, von ihrer Existenz und den damit zusammenhängenden Gefahren gewusst hatte, ohne je darüber zu sprechen oder ihr zu helfen. Aber auch das Gegenteil ist schwer zu begreifen: Mein Großvater musste doch seinen Onkel Louis, den Bruder seines Vaters David, und folglich auch seine Tochter Johanna gekannt haben. Warum also wurde sie nie erwähnt? Haben meine Leute – auch nach dem Krieg – nicht erfahren, dass unsere Cousine Johanna von den Nazis ermordet wurde?


    Louis und seine Familie


    Louis Kaempfer ist am 28. März [!] 1851 als Sohn von Emilie und Cohn Kaempfer in Posen geboren. (3). Er  heiratet Anna Heilbronn am 26. Juli 1882. Ab 1876 erscheint er in den Posener Adressbüchern, zuerst als „Handlungs-Kaufmann“, in der Breslauer Str. 35 bei seinen Eltern, 1886 als Inhaber einer „Weißwarenhandlung“ am Alten Markt 91, zuletzt 1894 als „Kaufmann u. Eigentümer“ in der St.-Martinstr. 33. Am 5. Oktober 1896 ziehen Louis und Anna mit ihren Kindern Hans (*1883), Richard (*1884), Emil (*1889) und Johanna (*1890) nach Berlin. Dort wohnen sie in Charlottenburg, zuerst in der Pestalozzistr. 92a, dann in der Witzlebenstr. 12a, wie wir aus den Berliner Adressbüchern [BAB][hier] erfahren. Im Jahr 1910 handelt er anscheinend mit "Bürsten und Scheuertüchern en gros" in der Kaiser-Friedrich-Straße 57 und ist telefonisch unter CH-6560 zu erreichen. Die Söhne Richard und Emil verlassen das Elternhaus vielleicht noch vor, aber spätestens nach dem 1. Weltkrieg. Nur der älteste Sohn Hans [!] lebt noch lange bei den Eltern, denn er wohnt mit seiner verwitwete Mutter noch um 1933 in der Witzlebenstraße.

    Zusatz: 1929 wohnt auch die am 5. Mai 1898 geborene jüngste Tochter Margarethe bei den Eltern in der Witzlebenstraße, wie wir dem "Jüdischen Adressbuch für Gross-Berlin" (Ausgabe 1929/30) entnehmen können [hier].


    Margarethe überlebt, denn wir finden sie als verheiratete Frau Enterlein nach dem Krieg in Hamburg wieder (siehe: Emil und der Kaempferspecht).
    Im "Jüdischen Adressbuch" des Jahres 1931 [hier] erscheinen neben Louis' Gattin Anna auch Felix' Ehefrau Käte und Sohn Heinz:

    Wie mir gesagt wurde, wandern beide rechtzeitig nach Holland aus. Heinz überlebt mit seinem Sohn Raymond (*1940), der mir diese Information gegeben hat. Ich lese nun auf zwei holländischen Datenbanken [hier] und [dort], dass Käthe geb. Ledermann am 19.11.1943 in Auschwitz ermordet ist. Felix erscheint zwar dort auch, aber er ist nach dem Umzug aus Posen schon bald in Berlin gestorben.

    Hans und seine Familie


    Als mein Großvater und seine Ehefrau Lisa geb. Rupp mit den Kindern Wolfgang (*1923), Renate (*1925) und Edith (*1927) 1934 in die Hauptstadt kommen, ist der Onkel Louis schon nicht mehr am Leben, und die verwitwete Anna erscheint 1933 zum letzten Mal im BAB. Friedrich Schrader, der Gatte von Hans' Schwester Susanne, besorgte David und seinen Nachkommen den sogenannten "Ariernachweis". Er war natürlich gefälscht: Cohn wurde in John umgetauft [!] und die Ehe mit Emilie lief nunmehr unter  evangelisch-lutherischen Vorzeichen. Damit war das Überleben der Familie in dieser Hinsicht gesichert. - Hans überwinterte im Schöneberger Rathaus als kleiner Beamter, dem Vernehmen nach als Zuständiger für die "Hundesteuer". Er bestand jedoch darauf, im Berliner Adressbuch bis 1943 als Schriftsteller zu erscheinen. Im gleichen Jahr erteilte ihm die  Reichsschrifttumskammerer "Schreibverbot", da "pazifistische Tendenzen" in seinem Roman Daniele Dorer (Rowohlt 1941, 2. Aufl. 1942) zu erkennen seien.  - Die fünfköpfige Familie wohnte in einem Mietshaus des Bayerischen Viertels, in der Luitpoldstr. 36, wo auch deutsche Familien jüdischer Abstammung lebten und in einer Oktobernacht des Jahres 1942 in Lastwagen abtransportiert wurden. Durch Zufall wurde Hans, spät abends heimkehrend, Zeuge der Aktion. Er hält die Szene in einem unveröffentlichen Roman fest (4). Nach eigener Aussage war er von der Brutalität des Vorgangs und seiner eigene Ohnmacht dermaßen geschockt, dass er erst nach dem Krieg über den Vorfall sprechen konnte. Das wäre sowohl ein Argument, um zu bezweifeln, dass er von Johannas Schicksal erfahren hat, ohne etwas darüber zu sagen oder zu schreiben, als für das Schweigen über etwas, das einem die Sprache verschlagen hat. Trotzdem kann ich mir nicht erklären, wie eine solche Abschottung möglich war. Gab es einen Bruch zwischen den Brüdern David und Louis, der auch die verwandschaftlichen Beziehungen der Kinder unterbunden hat?


    Freitag, 10. Januar 2020

    Berlin, Oktober 1942

    Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung (*)

    von Hans Kaempfer


    In einer lauen Oktobernacht des Jahres 42 ging ich nach einer kurzen U-Bahnfahrt zu Fuß in meine Wohnung heim. Vom Bayrischen Platz aus durch die Speyerer Straße hatte ich gut zehn Minuten. Ich war allein. Meine Frau hatte Wagners Götterdämmerung (1) nicht hören wollen. Ihre Opposition erstreckte sich im Gegensatz zu meiner freisinnigen Anschauung auf alle Kunstdarbietungen, die das Regime als Vorspann für seine Ziele benutzte. Ob der Gedanke daran mich bewegte, kann ich nicht sagen, doch bedrückte mich in der nächtlichen Stille ein unklares Schuldgefühl. Daß ich die Einladung eines befreundeten, von der "Bewegung" merklich angekränkelten Musikkritikers (2) zu einem Gläßchen Wein angenommen und lange mit ihm zusamnmengesessen hatte, könnte eher der Grund gewesen sein. Der Kollege, erheblich jünger als ich, erzählte in einem Ton unglaubhaften Entsetzens von einer Informationsreise Berliner Redakteure in das besetzte Polen, wo ihnen der berüchtigte Gouverneur Frank schamlos offene Einblicke in sein brutales Regiment und seine 'einmalig wirksamen Justizmethoden' gegeben hatte. An den Pforten des Warschauer Gettos war den prominenten Kulturbeauftragten gezeigt worden, wie "hoffnungslos dieses Elendsvolk von Renegaten verraten und verkauft und offensichtlich nichts Besseres wert war als die Massenliquidationen der schwarzen und braunen Büttel". Ich war mir mit dem Zechkumpan einig gewesen, daß Gouverneur Frank ein Bluthund und Schänder des deutschen Namens sei. Doch merkte ich wohl: der Musikkritiker war seelisch ziemlich unangefochten von seiner Höllenfahrt zurückgekehrt. Die geharnischte Verurteilung, die sein Chef (3) nach Anhörung des ungeheuerlichen Reiseberichts aussprach, hatte dem Musikreferententen "außerordentlich imponiert", besonders die gewagte Prophezeiung, solche Ausschreitungen würden gewiß nicht ungesühnt bleiben. Ich hatte dem Kollegen von der Musik nicht darin zugestimmt, im Zeitalter der Verrmassung und der praktisch notwendigen Gewaltenteilung müsse die ressortmäßige Verantwortung ebenso teilbar sein. Doch war mein Widerstand bei seinem weinseligen Gerede schmählich erlahmt.
         Aber nein, eine andere verborgene Ursache störte mich beim Gang durch die menschenleeren Straßen. Meine zittrige Unruhe wuchs zu beklemmender Vorahnung, begabte mich zu einer krankhaft überreizten Hellhörigkeit. Ich meinte, in den hohen Miethäusern der Straßenzeile ein Rumoren zu vernehmen. Und es kamen etliche, hitzig tuschelnde Menschen zu zweien oder mehreren an mir vorbei. Die starrten mich musternd an und blickten mir anzüglich nach, so, als ob mein nächtliches Wandern gänzlich ungehörig sei. Es konnte eine der häufigen Razzien im Gange sein. Die Stunden nach Mitternacht wurden mit Vorliebe für die zwielichtigen Fahndungen der allgegenwärtigen Polizeigarden gewählt. In die breite Luitpoldstaße einbiegend, sah ich zu beiden Seiten Möbelwagen stehen. Ich glaube, es waren drei. Auch vor unserem Haus stand einer, und mir fiel ein: wir befanden uns im Bayrischen Viertel, den von Juden bevorzugten Ortsteil. In unserem Haus wohnten allein drei jüdische Familien mit Kindern. Mit dem Opernregisseur Lazarus (4), zwei Stockwerke über uns, waren wir gut bekannt. Unsere Kinder hatten eine Zeitlang mit den beiden Töchtern freundschaftlich verkehrt. Eva, die ältere, eine vielbewunderte blonde Schönheit, die einmal in der Bahn von einem gesetzten Herrn als Muster des deutschblütigen Mädchens belobt worden war, worauf die Mutter kalt pariert hatte, ihre Eva sei hoffnungslos jüdisch, war vor einem Jahr nach Palästina entronnen. Aber der musikbesessenen Herr Lazarus fühlte sich den Deutschen und uns Berlinern voran gänzlich zugehörig. Als Heine-Verehrer hatte für ihn das Deutsche Reich ewigen Bestand. Er repetierte noch jetzt eifrig doch unerlaubt mit den Sängern der Staatsoper in seiner Wohnung und dachte nicht ans Auswandern, hatte es wohl auch längst verpaßt, hätte die hohe Gebühr für das englische affidavit sicher nicht mehr aufgebracht.
          Ich dachte dies alles, bevor noch das nächtliche Geschehen Gestalt annahm. Ich entdeckte dann: der Möbelwagen war von braunen Uniformierten bewacht. Um einen verspäteten Umzug handelte es sich also nicht. Die vage Idee baute ein paar Sekunden meinem Schrecken vor: in Berlin war von jeher das Unglaublichste möglich. Auch bei meinem fluchtartigen Umzug aus der Provinz (5) war der Möbelwagen erst nach Mitternacht vor unserem Haus erschienen und die Packer hatten unverschämte Trinkgelder aus meinem letzten Geldvorrat erpreßt. Nein, bei Gott, dies war aber kein Umzug von Haus zu Haus.
         Jetzt kam der alte Herr Gumpel (6) vom dritten Stock des Gartenhauses aus der Tür zur Straße, der Literat, dessen krampfhafte Hoffnungen auf Hitlers baldigen Sturz ich noch kürzlich bei einem Gespräch auf der Treppe in törichter Weise bestärkt hatte. An einem schweren Koffer mehr zerrend als schleppend taumelte er auf den Gehsteig. Total erschöpft setzte der alte Mann den Koffer auf dem Pflaster ab. Ich stand auf der anderen Straßenseite, nahe bei einer Laterne. Er hob eine Hand gegen mich, es war ein kurzes Winken. Sein Blick sprach von keinem Vorwurf. Ich nickte ganz schwach zurück, in dem bleichen Licht konnte es kaum zu sehen sein. Ich traute mich nicht, hinüberzugehen, mich zu dem "Judenhaus" zu bekennen. Doch eine der Wachen lief zu mir hin und fragte mich barsch, was ich hier zu suchen hätte. Ich sagte: ich wohne dort. Und der Braune fuhr mich an, wo ich mich mitten in der Nacht herumtreibe ? ob ich vielleicht auch Jude sei ? Nein, stammelte ich. In diesem Moment wünschte ich mir wahrhaftig einer zu sein (7). Ich dachte an Roland Engelhardts tragisches Trotzbekenntnis (8). Aber das war nur einer der vielen frommen Wünsche, die wie brüchige Herbarienpflanzen in unserem Gehirn eingepreßt sind. "Nein", sagte  ich entschieden und zeigte bereitwillig meinen Ausweis vor, aus dem meine Behördentätigkeit hervorging. Der Braune fuhr mich erneut an, warum ich dann nicht ins Haus ginge und hier 'Maulaffen feilhalte'. Ich überquerte darauf die Straße, genau in dem Augenblicke, als Herr Lazarus mit seiner Frau und der zwölfjährigen Ursel aus der Haustür kamen. Das Kind schluchzte still vor sich hin. Herr Lazarus streifte mich mit einem Blick, nicht so langsam, daß ich aus ihm hätte lesen können, und doch so haftend, dáß ich seinen Gedanken brennen fühlte wie die Glut aus einer Vernichtungskammer: Ich habe mich also in euch getäuscht, dachte der Korrepetitor des Ensembles der Deutschen Staatsoper.
         Ich konnte noch nicht gleich ins Haus gehen. Die Büttel scheuten sich sekundenlang das weinende Kind vorwärtszustoßen Der Weg zur Haustür war solange versperrt, bis Frau Lazarus die Tochter durch eine Umarmung getröstet hatte. Dann fiel ihr Blick auf mich. In diesen Tagen hatte mir meine Frau bekümmert gesagt, sie verstehe nicht, warum Frau Lazarus auf einmal so abweisend gegen sie sei, wo wir doch alles getan hatten, unsere judenfreundlichen Gefühle zu zeigen. Wir hätten doch geradezu waghalsig unsere Teilnahme bewiesen, wären sogar auf der Straße bei ihnen stehengeblieben, und die Ursel hätte immer zu unseren Kindern kommen können. Und doch traf mich jetzt Frau Lazarus' Blick voller Abscheu. Kein Aufschrei des Fluches hätte seine Beredsamkeit zu überbieten vermocht. Blicke sind so wenig zu beschreiben wie das Wirken eines Blitzes, der einen ohnmächtig hinstreckt. Doch in unserer größten Not vermögen wir Augenblitze von unfehlbarer Gerechtigkeit zu schleudern: 'Warum rufst du nicht, du elend-feiger Christ, haltet ein, ihr Mörder, bei allen guten Geistern !'
         Ja, ich wußte, ich war dann ein toter Mann. Bequeme Entschuldigung: auch Petrus bekannte sich nicht zu Jesus, als die Angst um sein Leben ihn umklammert hielt. 'Ich kenne den Menschen nicht', sagte er zu den Mägden. Erst als der Hahn dreimal krähte, besann er sich, weinte und ward zum Märtyrer.
          Wo aber waren meine - unserer Tränen, als der Völkermord zum Himmel schrie, die Ausrottung der erwählten Rasse, deren Heilige den lebendigen Gott entdeckt und die Fackel der Erkenntnis von Jerusalem bis Thule vorangetragen hatten ? – Ich herrschte die braunen Häscher nicht an, hieb keinem von ihnen ein Ohr ab. Setzte mich nicht der geringsten Gefahr aus. Mit dem Amtsausweis in der Tasche stand ich an den sicheren Gestaden des Höllenflusses und blickte mit Millionen Versklavter in gemäßigter Erschütterung auf das schwärzlich-rote Gewässer, dessen blutiger Schaum zu unseren Füßen leckte.
          Ich ging ins Haus, zu Frau und Kindern. Zögernd, viel später sprach ich von dem Schauder jener Nacht.

    Donnerstag, 9. Januar 2020

    Der Fall Ludwig (1901-1947)


    Die Eltern und Verwandten
     

    Ludwig ist der Sohn von Paula geb. Mottek (*10.7.1873, Wronke) und Gustav Kaempfer (*29.8.1864, Posen). Auf seiner Heiratsurkunde von 1896 wird Gustav als "praktischer Arzt" angeführt. Dort liest man auch, dass er seinen Wohnsitz seit Oktober 1884 in Berlin hat (1). Zu dieser Zeit war er erst 20 Jahre alt und studierte sehr wahrscheinlich Medizin in der Hauptstadt. Allerdings hat er seine Doktorarbeit und wohl auch einen Teil seines Studiums in Würzburg absolviert. Seine Dissertation - Ein Fall von Lymphangiom der Wange (Macromelie) - ist dort im Jahr 1888 vorgelegt worden. Nach dem einzigen verfügbaren Adressbuch der Stadt Oppeln (Opole) hatte der Arzt und Sanitätsrat Dr. med. Gustav Kaempfer seine Praxis 1936/7 in der Sternstraße 3 (heute ul. Reymonta):

     

    Gustavs Vater Paul (*16.4.1836, Wreschen) stirbt im Mai 1919 vermutlich in Posen, wo er 1862 als Buchhalter, später als Kommissionnär und Kaufmann (Getreide), zuletzt 1917 als Rentier in den Adressbüchern  erscheint (2). Gustavs Mutter Pauline geb. Gensler (*5.10.1848, Posen) (3) stirbt am 13.8.1891 in Berlin. Von ihr  habe ich folgende Verwandte gefunden [hier].


    Gustav hatte zwei Geschwister: Sein Bruder Felix (*29.5.1869, Posen) erscheint ebenfalls noch bis 1917 als Justizrat und Rechtsanwalt in den Posener Adressbüchern; die Urkunden verzeichnen seine Abreise nach Berlin am 7.12.1919 (4). Seine Schwester Martha (*15.5.1873, Posen) war mit Hugo Krebs verheiratet und hatte zwei in Berlin geborene Kinder: Edgar (*23.1.98) und Paula (*28.7.99).

    Mittwoch, 8. Januar 2020

    Hedwig und Richard Kaempfer (1917-1947)

    Hier die biographischen Elemente und Dokumente, die ich über Richard, den Sohn von Anna geb. Heilbronn und Louis Kaempfer (siehe die 4. Posener Urkunde), seine Frau Hedwig geb. Nibler und ihre Tochter Anneliese gefunden habe. Hedwig und Richard sind als politische Aktivisten in München bekannt, daher ist ihr Lebensweg in dieser Hinsicht gut dokumentiert. Über meine eigene Recherche geben vor allem die Anmerkungen Auskunft.

     Richard Kaempfer (1884-1966)

    Full Name: Richard Kaempfer
    Birth Date: 29 Aug 1884
    Death Date: Nov 1966 Cooperstown (USA)
    Last Residence: Schenevus, NY
    Social Security Card Issued: New York

    Geboren: Posen (heute: Poznań/Polen), 29.08.1884
    Gestorben: Cooperstown (USA), 10.11.1966
    Beruf(e)/Ämter: Kaufmann
    Wohnort(e): München
    Konfession: israelitisch
    Gruppe: Landessoldatenrat/Standort München
    Mitgliedschaft im Bayer. Parlament: Provisorischer Nationalrat 1918