Samstag, 11. Januar 2020

Johanna und die Berliner

 Johanna
 

Johanna Herrmann, geborene Kaempfer, ist am 9. Dezember 1890 in Posen als jüngstes Kind von Anna und Louis Kaempfer zur Welt gekommen und somit eine Cousine meines Großvaters Hans Kaempfer (*21. Dezember 1896, Braunschweig). Über die Volkszählung vom 17. Mai 1939 erfahre ich, dass sie in der Kissinger Straße 9, in Berlin-Schmargendorf (Wilmersdorf), gemeldet war (1). Drei Jahre später, am 28. März 1942, wird sie mit ihrem Gatten Erich Herrmann (*6.2.1878, Berlin) ins Ghetto von Piaski bei Lublin deportiert (2). Dort oder im Vernichtungslager Belzec wurden beide zu einem unbestimmten Zeitpunkt umgebracht. Soviel ich weiß, hat in meiner Familie nie jemand ein Wort über ihr Schicksal verloren. Ich kann jedoch nicht glauben, dass mein Großvater, der seit 1934 in Berlin lebte, von ihrer Existenz und den damit zusammenhängenden Gefahren gewusst hatte, ohne je darüber zu sprechen oder ihr zu helfen. Aber auch das Gegenteil ist schwer zu begreifen: Mein Großvater musste doch seinen Onkel Louis, den Bruder seines Vaters David, und folglich auch seine Tochter Johanna gekannt haben. Warum also wurde sie nie erwähnt? Haben meine Leute – auch nach dem Krieg – nicht erfahren, dass unsere Cousine Johanna von den Nazis ermordet wurde?


Louis und seine Familie


Louis Kaempfer ist am 28. März [!] 1851 als Sohn von Emilie und Cohn Kaempfer in Posen geboren. (3). Er  heiratet Anna Heilbronn am 26. Juli 1882. Ab 1876 erscheint er in den Posener Adressbüchern, zuerst als „Handlungs-Kaufmann“, in der Breslauer Str. 35 bei seinen Eltern, 1886 als Inhaber einer „Weißwarenhandlung“ am Alten Markt 91, zuletzt 1894 als „Kaufmann u. Eigentümer“ in der St.-Martinstr. 33. Am 5. Oktober 1896 ziehen Louis und Anna mit ihren Kindern Hans (*1883), Richard (*1884), Emil (*1889) und Johanna (*1890) nach Berlin. Dort wohnen sie in Charlottenburg, zuerst in der Pestalozzistr. 92a, dann in der Witzlebenstr. 12a, wie wir aus den Berliner Adressbüchern [BAB][hier] erfahren. Im Jahr 1910 handelt er anscheinend mit "Bürsten und Scheuertüchern en gros" in der Kaiser-Friedrich-Straße 57 und ist telefonisch unter CH-6560 zu erreichen. Die Söhne Richard und Emil verlassen das Elternhaus vielleicht noch vor, aber spätestens nach dem 1. Weltkrieg. Nur der älteste Sohn Hans [!] lebt noch lange bei den Eltern, denn er wohnt mit seiner verwitwete Mutter noch um 1933 in der Witzlebenstraße.

Zusatz: 1929 wohnt auch die am 5. Mai 1898 geborene jüngste Tochter Margarethe bei den Eltern in der Witzlebenstraße, wie wir dem "Jüdischen Adressbuch für Gross-Berlin" (Ausgabe 1929/30) entnehmen können [hier].


Margarethe überlebt, denn wir finden sie als verheiratete Frau Enterlein nach dem Krieg in Hamburg wieder (siehe: Emil und der Kaempferspecht).
Im "Jüdischen Adressbuch" des Jahres 1931 [hier] erscheinen neben Louis' Gattin Anna auch Felix' Ehefrau Käte und Sohn Heinz:

Wie mir gesagt wurde, wandern beide rechtzeitig nach Holland aus. Heinz überlebt mit seinem Sohn Raymond (*1940), der mir diese Information gegeben hat. Ich lese nun auf zwei holländischen Datenbanken [hier] und [dort], dass Käthe geb. Ledermann am 19.11.1943 in Auschwitz ermordet ist. Felix erscheint zwar dort auch, aber er ist nach dem Umzug aus Posen schon bald in Berlin gestorben.

Hans und seine Familie


Als mein Großvater und seine Ehefrau Lisa geb. Rupp mit den Kindern Wolfgang (*1923), Renate (*1925) und Edith (*1927) 1934 in die Hauptstadt kommen, ist der Onkel Louis schon nicht mehr am Leben, und die verwitwete Anna erscheint 1933 zum letzten Mal im BAB. Friedrich Schrader, der Gatte von Hans' Schwester Susanne, besorgte David und seinen Nachkommen den sogenannten "Ariernachweis". Er war natürlich gefälscht: Cohn wurde in John umgetauft [!] und die Ehe mit Emilie lief nunmehr unter  evangelisch-lutherischen Vorzeichen. Damit war das Überleben der Familie in dieser Hinsicht gesichert. - Hans überwinterte im Schöneberger Rathaus als kleiner Beamter, dem Vernehmen nach als Zuständiger für die "Hundesteuer". Er bestand jedoch darauf, im Berliner Adressbuch bis 1943 als Schriftsteller zu erscheinen. Im gleichen Jahr erteilte ihm die  Reichsschrifttumskammerer "Schreibverbot", da "pazifistische Tendenzen" in seinem Roman Daniele Dorer (Rowohlt 1941, 2. Aufl. 1942) zu erkennen seien.  - Die fünfköpfige Familie wohnte in einem Mietshaus des Bayerischen Viertels, in der Luitpoldstr. 36, wo auch deutsche Familien jüdischer Abstammung lebten und in einer Oktobernacht des Jahres 1942 in Lastwagen abtransportiert wurden. Durch Zufall wurde Hans, spät abends heimkehrend, Zeuge der Aktion. Er hält die Szene in einem unveröffentlichen Roman fest (4). Nach eigener Aussage war er von der Brutalität des Vorgangs und seiner eigene Ohnmacht dermaßen geschockt, dass er erst nach dem Krieg über den Vorfall sprechen konnte. Das wäre sowohl ein Argument, um zu bezweifeln, dass er von Johannas Schicksal erfahren hat, ohne etwas darüber zu sagen oder zu schreiben, als für das Schweigen über etwas, das einem die Sprache verschlagen hat. Trotzdem kann ich mir nicht erklären, wie eine solche Abschottung möglich war. Gab es einen Bruch zwischen den Brüdern David und Louis, der auch die verwandschaftlichen Beziehungen der Kinder unterbunden hat?



Der andere Hans 
 

Über den ältesten Sohn von Anna und Louis kann ich derzeit nur spekulieren. In den BAB nach 1933 erscheint er als Beamter, 1942 und 1943 dann als Büroangestellter in der Gervinusstr. 20.



Die Gervinusstraße liegt an der Bahnlinie von Charlottenburg nach Westkreuz. Ich glaube nicht, dass  es sich hier um eine Geschäftsadresse meines Großvaters handelt, Es ist eher anzunehmen, dass der Sohn von Anna und Louis nach dem Ableben seiner verwitweten Mutter um 1933 in die Gervinusstraße gezogen ist. Auch habe ich bislang keinen Hans Kaempfer oder Kämpfer auf den Transportlisten [hier] bzw. im Bundesarchiv für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland [dort] gefunden. Und für die beiden letzten Kriegsjahre gibt es keine Adressbücher mehr für die zerbombte Hauptstadt. Nur eine Recherche bei den heutigen Berliner Behörden kann hier Klarheit verschaffen.

Wenn der Bruch in der Familie so weit ging, dass die Kinder nicht einmal die Namen der Cousinen und Cousins kannten, was für beide Seiten gelten würde, dann könnte es schon früh, vielleicht sogar noch vor der Geburt der Kinder in Posen passiert sein. Dagegen scheint es mir höchst unwahrscheinlich, dass der andere Hans nichts vom Schicksal seiner eigenen Schwester Johanna gewusst hat. Der Transport nach Piaski ging am 28. März 1942 - am Geburtstag des Vaters! - von Berlin ab. Hätte Bruder Hans noch helfen können? Oder ist er vielleicht vorher aus der Stadt verschwunden? Dass er noch im 1943er Adressbuch erscheint, ist kein zwingender Beweis für seinen tatsächlichen Aufenthalt im brandgefährlichen Berlin. Aber wohin hätte er noch gehen können? 


Das Jahr 1942


Auf der Wannseekonferenz vom 26. Januar 1942 wurde die systematische Umsetzung  der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" beschlossen und organisiert. Aber schon seit dem 23. Oktober 1941 war auf Befehl Himmlers allen Bürgern jüdischer Abstammung die Auswanderung verboten. Auch hatten nach dem Überfall auf Polen und verstärkt ab dem 22. Juni 1941 im Krieg mit Russland Massenerschießungen und erste Vergasungsversuche in Lastwagen stattgefunden. Dann jedoch spitzte sich die Lage derart zu, dass ein Entkommen kaum mehr möglich war. Als einzige Möglichkeit blieb das Versteck, und gerade in der Hauptstadt gab es einige mutige Berliner, die ihre verfolgten Mitbürger aufnahmen und in Lauben, Kellern oder auch in ihren Wohnungen unterbrachten. Die Jüdische Allgemeine schreibt [hier];
Als Joseph Goebbels am 19. Juni 1943 Berlin für »judenrein« erklärte, war das – in diesem Fall zum Glück – eine seiner vielen Propagandalügen. Denn zu dem Zeitpunkt waren in der Hauptstadt bereits etwa 7000 Juden untergetaucht. Mehr als 1700 davon überlebten versteckt im Untergrund. Sie waren dabei auf die Hilfe von Freunden, aber auch Unbekannten angewiesen.
In diesem Kontext möchte ich einen dieser mutigen Menschen namentlich erwähnen: Als überzeugter Christ gewährte Cäsar Hartbrot der als Jüdin verfolgten Hilde Horn bis Kriegsende Unterschlupf in seinem Hermsdorfer Haus (Kneippstraße 36). Dort wohnten auch meine Großeltern mütterlicherseits mit ihren vier Kindern, die ebenfalls den Naziterror zu befürchten hatten. Das aber ist ein anderes Kapitel.

Jedoch hat niemand die 51jährige Johanna und ihren 64jährigen Gatten Erich Herrmann vor dem Schlimmsten bewahren können. Ich lese hier [pdf]:
Als im Oktober 1941 Mitarbeiter des Judenreferats der Stapoleitstelle Berlin Mitglieder des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Berlins über den bevorstehenden Beginn der Deportationen unterrichteten, wiesen sie diese zugleich an, die Synagoge in der Levetzowstraße 7/8 im damaligen Bezirk Tiergarten zum Sammellager umzugestalten. Im Hauptraum des Gebäudes wurde daraufhin die Bestuhlung entfernt und Stroh, das als Nachtlager dienen sollte, ausgestreut. Die Gestapo tarnte die ersten Transporte als Wohnungsräumaktion; entsprechend bezeichnete sie die ehemalige Synagoge in der Levetzowstraße gegenüber der Jüdischen Gemeinde zunächst als Notunterkunft und nicht als Sammellager. Vom 1. „Osttransport“ am 18. Oktober 1941 bis zum 22. „Osttransport“ am 26. Oktober 1942 erfolgte hier die Zusammenstellung der Transporte von Berliner Juden in die Ghettos in Mittelosteuropa. Die Opfer wurden von Polizisten der Stapoleitstelle und der Kriminalpolizei in die ehemalige Synagoge gebracht und nach ein paar Tagen Aufenthalt über den Bahnhof Grunewald bzw. den Güterbahnhof Moabit deportiert.
Zuvor hatten die Eheleute wahrscheinlich den gefürchteten Brief bekommen. Ich zitiere aus dem Bericht von Blanka Alperowitz [hier]:
In der ersten Zeit unseres Evakuiertwerdens (ich kann natürlich nur über Berliner Verhältnisse reden) fanden wir beim Nachhausekommen den schon jeden Tag erwarteten und gefürchteten Brief von der Wohnungsberatungsstelle vor. Mit zitternden Händen öffneten wir das Schreiben und fanden dann fast regelmässig folgenden Inhalt vor:„Wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass Ihre Wohnung auf Anordnung der Behörde zur Räumung bestimmt ist. Sie haben an dem und dem Tage (gewöhnlich zwei Tage später) um 10 Uhr vormittags in der Wohnungsberatungsstelle Oranienburger Str. 31 zu erscheinen. Mitzubringen ist der Mietskontrakt und die und die Papiere.“ Die Papiere waren, soweit ich mich heute noch erinnern kann, die Unterlagen über unsere Vermögensverhältnisse. - In der ersten Zeit wussten die Empfänger solcher Briefe noch nicht, dass an eine solche Kündigung sich die Evakuierung an[zu]schliessen pflegte. Je mehr Evakuierungen aber vorkamen, desto mehr häuften sich die Selbstmorde, und ein grosser Teil der auf diese Weise Benachrichtigten machten erst gar nicht den Weg zur Oranienburger Strasse.
Johanna und Erich sind diesen Weg gegangen:

Liberale Synagoge. Fotograf unbekannt

Zur Synagoge in der Levetzowstraße fand ich folgenden Text [hier]:
Am 1. Oktober 1941, am Versöhnungstag Jom Kippur, teilte die Gestapo der Gemeindeleitung mit, dass die Synagoge ab sofort als Sammellager für Deportationen benutzt werde. Die Gemeinde war damit für die Ernährung und Unterbringung der festgesetzten Menschen, für die Betreuung der Kinder und die medizinische Versorgung verantwortlich. Die Gestapo kümmerte sich nur um die formalen Belange, wie die Erfassung und Ausbürgerung, um die Durchsuchung des Gepäcks und die Beschlagnahmung von Geld und Wertsachen. In kürzester Zeit erlebten die Menschen hier den Verlust ihrer Persönlichkeit, ihrer bürgerlichen Reputation und ihrer körperlichen Integrität. Sie erfuhren eine Ausplünderung durch den Staat und eine massive Verunsicherung in Hinsicht auf ihre unmittelbare Zukunft. Psychische Krisen und Suizide waren an der Tagesordnung. Die Angestellten der Gemeinde wurden durch die Gestapo massiv unter Druck gesetzt und durften den festgesetzten Menschen keinerlei Hilfe zukommen lassen. Zeitzeugen beschreiben schreckliche Szenen. Das Sammellager war bis November 1942 in Betrieb, und dann noch einmal während der „Fabrikaktion“ im Februar 1943.
Der 28. März 1942 war ein Samstag. Endlich kam der ersehnte Frühling. Vom 6. Januar bis zum 16. März hatte es in Berlin  mit 70 aufeinanderfolgenden Frosttagen die längste Kältewelle der Jahre 1933-1945 gegeben. Die Tiefsttemperatur lag am 16. Januar bei -21°C [hier]. Der XI. Transport ging vom Bahnhof Grunewald ab. Der Himmel war bewölkt. Für Johanna, Erich und 983 andere Berliner begann die zweitägige Zugfahrt ins Ghetto von Piaski. Ausgeplündert, gedemütigt, entpersonalisiert: Konnte da noch Hoffnung sein? Stirbt die Hoffnung, wie die Franzosen sagen, wirklich zuletzt?

Über das Piaski-Ghetto bei Lublin lese ich [hier]:
Von den 3974 Einwohnern im Jahr 1921 waren 2674 Juden. Nach der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg wurde Piaski Teil des Generalgouvernements; zu dieser Zeit lebten 4165 Juden in Piaski. Im jüdischen Schtetl in Piaski wurde Anfang 1940 ein Ghetto eingerichtet, in das auch Juden aus dem Lubliner Ghetto sowie aus dem Deutschen Reich (Stettin) deportiert wurden. Ab März 1942 erfolgten Transporte in das Vernichtungslager Belzec, während 4200 Juden aus dem Deutschen Reich und zweimal 1000 aus dem Ghetto Theresienstadt hierher deportiert wurden und die Zahl auf 6500 anstieg. Unter dem Kommando von Karl Streibel wurden im Oktober 1942 4000 Juden in das Zwangsarbeitslager Trawniki verlegt. Ab November stieg die Zahl erneut auf 6000, die Männer wurden im März nach Trawniki deportiert, das Schicksal der Frauen und Kinder bei Auflösung des Ghettos ist nicht überliefert.
Von Piaski sind Johanna und Erich sehr wahrscheinlich ins 100 Km südlich von Piaski gelegene Todeslager Bełżec vrschleppt worden. Ich lese [hier]:
Im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ traf am 17. März 1942 der erste Zugtransport mit Juden aus dem Ghetto Lublin in Bełżec ein und brachte wie die nächstfolgenden „arbeitsunfähige“ Menschen, Alte, Frauen und Kinder ins Tötungslager.- Innerhalb der nächsten vier Wochen wurden 75.000 Juden umgebracht, danach die Transporte vorübergehend eingestellt. Die Kapazität der Gaskammern wurde durch Neubauten vergrößert; ab Spätsommer 1942 wurde ein Bagger zum Erdaushub eingesetzt. In einer zweiten Phase ab August 1942 wurden Juden aus dem gesamten Generalgouvernement als Opfer herangeschafft. Während anfangs maximal 15 Güterwaggons gleichzeitig „abgefertigt“ werden konnten, waren es nach den Erweiterungen der zweiten Phase 40 Güterwaggons.
Wenn die Zeitangabe im Roman meines Großvaters stimmt, sind die Familien aus der Luitpoldstraße 36 mit einem der zwei Oktobertransporte 1942 von Berlin nach Riga deportiert worden. Ich lese [hier]:
Mit dem 21. Osttransport wurden ausschließlich Berliner Juden nach Riga deportiert. Unter ihnen befand sich wiederum eine große Zahl von Familien mit Kindern. Auch 59 Kinder aus dem Baruch-Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162 wurden mit diesem Transport deportiert, darunter Gerd Rosenthal (Nr. 251 der Transportliste), der Bruder des späteren Entertainers Hans Rosenthal [A. Gottwaldt, D. Schulle, Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich 1941-1945, Wiesbaden 2005, 258]. In der Transportliste sind 999 Namen verzeichnet, von denen 36 gestrichen wurden. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass 963 Menschen deportiert wurden.
Etwas früher - am 1. Juni 1942 - wurden auch Georg Kaempfer (*1883, Posen) und seine Frau Herta geb. Bergheim (*1893, Schwerenz) mit den in Saarbrücken geborenen Töchtern Evelyne (*1922) und Marion (*1925) von Halle ins KZ Sobibór deportiert und dort angeblich schon bei der Ankunft am 3. Juni ins Gas geschickt. Wenig später - am 27. Juni 1942 - werden Georgs Schwester Hedwig Deutsch (*1871, Posen) und ihr Sohn Hellmuth (*1894) ab Breslau ins Sammellager Grüssau deportiert. Beide weden am 2. September 1942 in Theresienstadt (Terezín) umgebracht.


Exkursus über die Nachkriegszeit


Nach dem Krieg herrschte ein "betretenes Schweigen" in Westdeutschland, dass mit dem Freudschen Begriff der Verdrängung [hier] beschrieben werden kann. Es war auch ein Grund zur Übersiedlung von Rückkehrern aus der Emigration wie Bertolt Brecht und politisch sowie rassi[sti]sch Verfolgten nach Ost-Berlin, in die spätere DDR, wo man antifaschistische Propaganda betrieb, um dann selbst einen Polizeistaat zu errichten. Das aber war in den ersten Nachkriegsjahren noch nicht absehbar. Nach der Berlin-Blockade von 1948 schaffte erst der Bau der Mauer am 13. August 1961 klare Fronten. - In Westdeutschland waren es die von Staatsanwalt Fritz Bauer in die Wege geleiteten Auschwitzprozesse (1963-1968), die dem Zustand der Lähmung ein erstes Ende setzten. Auch die Jugendbewegungen der 1960er Jahre sind zum Teil als Reaktion auf die Starre der Alten zu verstehen. Und die stillschweigende Übernahme von Belasteten, wie Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (1966-1969) oder BND-Chef Reinhard Gehlen (1956-1968) wurde angeprangert.

Mein Großvater Hans hatte nach dem Krieg einen Posten am Kunstamt Wilmersdorf bekommen, versuchte die durch die Nazizeit zerstörte schriftstellerische Laufbahn mit dem Romanprojekt Die Moabiterin (siehe Anm. 4) wiederaufzunehmen und übersetzte weiterhin Bücher aus dem amerikanischen Englisch. Zwei seiner Arbeiten sind sogar noch nach seinem Tod als Taschenbücher erschienen, was als kleiner Erfolg zu verbuchen ist (5). In den 1960er Jahren lebten meine Großeltern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der sogenannten Künstlerkolonie am Breitenbachplatz, wo ich von 1967 bis 1969 manches Wochenende verbrachte. Ich erinnere mich an Spaziergänge mit meinem Opa zum Botanischen Garten, bei denen er mir unterwegs einen „Amerikaner“ kaufte und manchmal vom „Schlamassel“ des Ersten Weltkrieges berichtete: Er hatte an der Somme-Schlacht (1916) teilgenommen und überlebte nur durch eine Verletzung, die ihm einen Aufenthalt im Lazarett bescherte. Als er zurück an die Front kam, war seine gesamte Einheit dezimiert. So jedenfalls hat er es mir erzählt. Aber ich erinnere mich auch an das Schweigen und die Melancholie bei meinen Großeltern. Während auf den Straßen Berlins die Jugend tobte...


Künstlerkolonie, Kreuznacher Str. 66. -  Ihre Wohnung befand sich im 1. Stock links (Foto: 4/2009)


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Anmerkungen


(1)  Im BAB von 1930 erscheint ein Erich Herrmann, Kaufmann, in der Kissinger Str. 8a
(2) Hier der Auszug aus der Transportliste [pdf]:


Der 64jährige Erich und die 52jährige Johanna Herrmann wurden als "arbeitsfähig" befunden [Kennkartennr. 433404/5 - Kennzeichennr. 10834/5]. Als Wohnort wird die Landauerstr. 12 (Wilmersdorf, nahe Rüdesheimer Platz) "bei Hamburg" verzeichnet. Unter diesem Namen konnte ich keinen entsprechenden Eintrag finden [ein Eugen Hamburger, Bankangestellter, wohnte in Wilmersdorf in der Landhausstr.38). - Folgende Informationen über den XI. Transport vom 28. März 1942 aus Berlin nach Piaski werden  gegeben [hier]:
Mit den im März 1942 einsetzenden reichsweiten Deportationen in das Generalgouvernement gelangten bis zum Monatsende fast 6000 Juden in die Durchgangsgettos im Distrikt Lublin, davon 4000 nach Izbica (2 Transporte aus Theresienstadt und je 1 Transport aus Aachen/Koblenz und Nürnberg) und 2000 nach Piaski (je 1 Transport aus Mainz/Darmstadt und Berlin). Im Monatsbericht für März der Abteilung für Bevölkerungswesen und Fürsorge in Lublin wird hierzu im Abschnitt "Judenumsiedlungsaktion des SS- und Polizeiführers" festgestellt: "Der Stand der Siedlungsbewegung ist zur Zeit der, daß ca. 6000 vom Reich hergesiedelt wurden, ca. 7500 aus dem Distrikt und 18000 aus der Stadt Lublin herausgesiedelt worden sind" [Faschismus, Getto, Massenmord, Berlin 1961, 271]. Endstation der "Herausgesiedelten" war das Vernichtungslager Belzec. - Sämtliche Teilnehmer des Berliner 11. Osttransports nach Piaski stammten aus Berlin. Die Transportliste der Gestapo enthält 985 Namen, von denen 12 gestrichen wurden. Damit sind 973 Menschen deportiert worden. Dies entspricht der Angabe in der Statistik der Reichsvereinigung für die Zahl der Deportierten aus Berlin im März 1942.
Die Gedenkstätte Yad Vashem bestätigt die Ermordung beider Eheleute.

Der Journalist Wolf Thieme hat am 3. April 2010 eine Recherche über das Schicksal eines Alfred Traub, der mit dem gleichen Transport deportiert wurde, im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht [hier].

(3) Seine Geschwister heißen Isaak (*1847), Ulrika (*1849), Jacob (*1853), Abraham (*1855), Moritz (*1857) und David (*1859). Die vier Erstgenannten wandern zwischen 1872 und 1893 nach New York aus [siehe. Die Amerikaner]. Mein Urgroßvater David verlässt Posen im Jahr 1878 und lebt ab 1884 in Braunschweig.
(4) Titel: Die Moabiterin. Auf vier Seiten erzählt Hans, wie die Familien nachts mit Koffern aus dem Haus gescheucht und in Lastwagen gepackt wurden [hier]. Unter ihnen befand sich der ehemalige "Korrepetitor der Deuschen Oper" - Lazarus im Roman -, den auch mein Vater gekannt hat und im Interview über seine Kindheit den "alten Aron" nennt [hier]. Sein wirklicher Name scheint aus diesem Adressbuch hervorzugehen:

Aber mein Vater sollte recht behalten: Es handelte sich in der Tat um die Familie Aron. Siehe den Zusatz zur Anm. 4 des Eintrags Berlin, Oktober 1942

(5)  Zu den Veröffentlichungen als Autor und Übersetzer, siehe: Hans Kaempfer

1 Kommentar:

  1. Hi! My name is Nicholas Enterlein, I live in São Paulo-Brazil and my grandfather is Peter Ludwig Enterlein who is mentioned in this article. I don’t have information about Emil Kaempfer who is my great grandmother’s brother. I have some difficult to understand your article because I don’t German and I used google translate. Maybe I know the reason about Margerethe came to Brazil in 1959, it’s the same year that my aunt was born and maybe she might met him. You can contact me by email! Best regards!

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