Die Ermordeten
Am Anfang dieser Recherche steht die durch Zufall entdeckte Ermordung von Georg Kaempfer, seiner Frau Herta, den beiden Töchtern Evelyne und Marion in Sobibór (†3.6.1942). Dann stellte sich heraus, dass seine Schwester Hedwig und ihr Sohn Helmuth Deutsch (†2.9.1942), sowie die Verwandten Paula und Gustav Kaempfer (†3.10.1943) in Theresienstadt, und Gustavs Schwägerin Käthe Kaempfer geb. Ledermann (†19.11.1943) in Auschwitz umgebracht wurden. Hinzu kommt die Ermordung von
Hugo Krebs, der mit Gustavs Schwester
Martha verheiratet war, sowie ihrer Tochter
Paula (*1899 Berlin):
Hugo (*3.8.1862, Tarnowitz) wurde als 80jähriger am 24.9.1942 von Berlin nach
Theresienstadt deportiert und Paula, die mit Hans Blumenthal verheiratet, aber wieder geschieden war, wurde am 29.1.1943 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt
und dort umgebracht. Nicht zuletzt stieß ich auf Johanna und ihren Gatten Erich Herrmann, die am 28.3.1942 mit dem XI, Osttransport von Berlin nach Piaski deportiert und sehr wahrscheinlich im Vernichtungslager Belzec ermordet worden sind. Johanna (*1890) war die Tochter von Anna geb. Heilbronn (*1856) und Louis Kaempfer (*1851), einem Bruder meines Urgroßvaters David, und somit eine direkte Cousine meines Großvaters Hans (*1896) [siehe: .
Johanna und die Berliner].
Warum hat ihnen niemand geholfen oder helfen können? – Die Antwort auf diese Frage, die auch einen möglicherweise unterlassenen Hilferuf einschließt, könnte auf einen Bruch zwischen den Familien hindeuten. Zwar wurden auch nach der „Mischehe“ meiner Großeltern mütterlicherseits die Beziehungen von jüdischer Seite in den 1920er Jahren abgebrochen, jedoch hat man sich zur Nazizeit wieder beigestanden und die jüdischen Verwandten bei der Ausreise nach Schweden unterstützt. Warum also nicht bei den Kaempfers?
Die Überlebenden
Einige sind dem Naziterror und der Tötungsmaschine entronnen. Sie waren das Licht in der Finsternis dieser Recherche: Der politische Aktivist Richard (1884-1966), der sich mit seiner Frau Hedwig und der Tochter Anneliese nach Paris absetzte, sowie Ludwig Kaempfer (1901-1947), der es nach fast einjähriger Gestapo-Haft in Berlin, Dachau und Buchenwald (1938/39) bis Kanada schaffte, und sein Cousin Edgar Krebs (1898-1981), der sich mit einem
Einwanderungsvisum in die USA vom 1.9.1939 ebenfalls in letzter Minute retten
konnte. Hinzu kommen die rechtzeitig Ausgewanderten, wie Georgs Bruder Hugo in New York oder Johannas und Richards Bruder Emil in São Paulo, die beide nach dem Krieg noch am Leben waren (1). Hier stellt sich die Frage, warum die Verfolgten nicht emigriert sind.
Dazu sind die einzelnen Situationen zu betrachten:
Georg lebte mit seiner Frau und den drei Kindern in der Stadt Saarbrücken, die noch bis Januar 1935 außerhalb des Machtbereichs der Nazis lag. War er mit Bruder Hugo in Kontakt? Man kann verstehen, dass er sein Geschäft, sein ganzes Hab und Gut nicht einfach für eine ungewisse Zukunft in einem fremden Land aufgeben wollte, vielleicht eine Zeitlang auch wie so viele noch geglaubt hat, dass der "Spuk" vorübergehen werde...
Hedwig lebte 1930 als 59jährige "Rentiere" in der Breslauer Opitzstr. 7 mit ihrem Sohn Helmuth Deutsch und dessen Gattin Hildegard geb. Meier (2). Könnte es sein, dass auch Helmuth eine "Mischehe" eingegangen ist und sich deshalb nach 1935 noch nicht allzu große Sorgen machte? Aber vielleicht hätte auch hier Onkel Hugo bei der Emigration in die USA geholfen? (3) Wohl spielt in dieser Geschichte das Alter eine nicht zu unterschätzende Rolle. 1940, als man gerade noch auswandern konnte, war Hedwig Deutsch fast 70 Jahre alt...
Auch Ludwig Kaempfers Eltern waren schon alte Leute, als sie in Oppeln von der Tötungsmaschine erfasst wurden. Bei ihrer Deportation am 21.4.1943 war Gustav 78 und seine Frau Paula 69 Jahre alt. Ludwig hat sich kurz vor Ausbruch des Krieges nach England absetzen können und ist von dort als "enemy alien" nach Kanada transferiert worden. Bestimmt hatte er sich große Sorgen um seine Eltern gemacht, konnte ihnen aber aus der Ferne und als Lagerinsasse nicht zur Seite stehen.
Johannas Schicksal ist deshalb so unverständlich, weil ihr Cousin und ihr Bruder beide zur Nazizeit in Berlin lebten und sie hätten unterstützen können. Tief geschockt überstand mein Großvater Hans den Krieg als kleiner Beamter mit seiner Frau Lisa und den Töchtern in der zerbombten Hauptstadt. Sohn Wolfgang (*1923) wurde 1941 zur Wehrmacht eingezogen und kam im sowjetischen Gefangenenlager von Schatura nur knapp mit dem Leben davon (4). Die Spur von Johannas Bruder Hans verliert sich seltsamerweise nach 1942. Was aus ihm geworden ist, ob er überlebt hat, warum er seiner Schwester nicht helfen konnte: das sind Fragen, die zur Zeit einer nicht spekulativen Antwort entbehren.
Der Konflikt
Wie anzunehmen ist, muss ein gravierender Konflikt den Bruch zwischen den Familien verursacht haben. Über dessen Natur kann ich jedoch nur spekulieren. Das einzige Material, das mir zur Verfügung steht, ist der 700seitige unveröffentlichte Roman
Die Moabiterin meines Großvaters Hans, an dem er in der Nachkriegszeit lange Jahre gearbeitet hat. Die Erzählung umspannt die Zeit vom „Frühling 1913“ bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Daraus habe ich die vier Seiten zitiert, in denen die „Evakuierung“ der jüdischen Mitbewohner des Hauses in der Luitpoldstraße geschildert wird (siehe:
Berlin, Oktober 1942). Hans erscheint dort als Ich-Erzähler und ohnmächtiger Zeuge. Mit einer kritischen Analyse könnte anhand der im Roman benutzten Referenzen (z.B. Posen, Wreschen) auch sein Bezug zur Familiengeschichte rekonstruiert und eventuelle Hinweise auf einen Bruch zwischen den Familien gefunden werden (5).
In den 1920er Jahren lebten
Louis, seine Frau Anna und drei ihrer Kinder – Hans (*1883), Johanna (*1890) und Margarethe (*1898) – schon seit der Jahrhundertwende in Berlin. Auch der Bruder bzw. Onkel
David erschien in der 1. Hälfte der 20er Jahre in den Adressbüchern (BAB) über die Berliner Vertretung seiner Gliesmaroder
Kaempfer & Co (Hermsdorf, Bahnhofstraße 15, Telefonanschluss: Tegel 852). Und er besaß die berühmte Villa in Neubabelsberg, durch welche der „Skandal“ um
Reichsbahndirektor Neumann am 3. April 1928 Schlagzeilen machte [
hier], der von allen anderen Familienmitgliedern kaum übersehen werden konnte. – Als nun Davids Sohn
Hans 1934 – also sechs oder sieben Jahre nach dem Konkurs der Kaempfer & Co – in Berlin ankam, lebten dort seit über dreißig Jahren Cousin
Hans [!] und Cousine
Johanna, die beide noch in Posen geboren, aber schon als Kinder mit den Eltern nach Berlin gekommen sind (6). Louis und Anna waren 1934 wohl nicht mehr am Leben. Aber David hätte auf die Berliner Verwandten hinweisen können, als sich sein Sohn Hans mit Frau und Kindern auf den Weg von Braunschweig nach Berlin machte. Oder waren die Cousins tatsächlich bis 1941/42 – also sieben oder acht Jahre lang – in der gleichen Stadt ansässig, ohne sich zu frequentieren oder gar voneinander zu wissen?
Wenn es ihn gegeben hat, könnte der vermutete Konflikt sowohl religiös – z.B. durch Davids „Mischehe“ –, als auch politisch – z.B. zwischen dem Militarismus des Fabrikanten David (7) und dem Pazifismus seines sozialistischen Neffen [siehe:
Hedwig und Richard Kaempfer] – bedingt sein. Oder war der Dissens schon älter? Hatte wie so oft Geld eine Rolle gespielt? Wurde eine Schuld nicht beglichen?
Der „Ariernachweis“
Als im September 1935 die sog. Nürnberger Rassengesetze ergingen, wurde der Ariernachweis für alle Bürger des Deutschen Reichs wichtig und alltäglich. Die Verordnungen zum Reichsbürgergesetz entzogen Juden Schritt für Schritt die Staatsbürgerrechte und machte[n] sie zu Bürgern zweiter Klasse. Das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre verbot zudem Eheschließungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. – Die nunmehr von Millionen Deutschen zu erbringenden „Ariernachweise“ führten zu einer Zunahme der Genealogie bzw. der scheinwissenschaftlichen „Sippenforschung“, die erst 1945 ihr Ende fand.
Diese genealogischen Bemühungen um eine „unverdächtige“ Abstammung und Vertuschung der Zugehörigkeit aller Familienmitglieder nach 1779 zur jüdischen Religion, welche durch die Posener Urkunden zweifelsfrei belegt wird, sind auch nach dem Krieg noch in Gerhard Petzolds Familiengeschichte („GPK“) und dem von ihm erstellten Stammbaum spürbar:
Fakt ist, dass mein Großonkel Friedrich Schrader nach Erlass der Nürnberger Gesetze im September 1935 beim Reichsministerium des Inneren einen gefälschten „Ariernachweis“ eingereicht und auch durchbekommen hat, der Davids fünf Kinder, die als „Halbjuden“ gegolten hätten, sowie seine Enkel vor möglichen Repressalien bewahrt haben. Bezeichnend in Gerhards Stammbaum sind die erwiesenermaßen falschen Angaben zu Emilie Lachmann (siehe dazu die
1. Posener Urkunde), das angeblich „unorthodoxe Judentum“ von Jakob und seinem Sohn Cohn, obwohl dessen Vorname Bände spricht, sowie die Ausdrücke „1/2-, 3/4- und 3/8-Jude“ (8).
Offene Fragen
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Zuerst der schon erwähnte nicht geleistete Beistand in der Not und ein vermuteter, höchst rätselhafter Familienkonflikt, der vielleicht sogar dazu geführt hat, dass die Cousins nicht einmal voneinander wussten. Jedenfalls ist es schwer verständlich, dass mein Großvater Hans nie von den Kindern seines Onkels Louis, geschweige denn von Johannas Ermordung durch die Nazis gesprochen hat. Sicher ist, dass mein Vater Wolfgang darüber nicht unterrichtet war, sonst hätte er es mir spätestens im Interview erzählt.
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Damit hängt auch das nicht geklärte Schicksal von Johannas Bruder Hans zusammen, über dessen Leben nach 1942/43 keine Informationen auffindbar waren. Hat der 1883 geborene älteste Sohn von Louis und Anna die Nazieit überlebt?
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Auch das Leben von Johannas Bruder
Emil in São Paulo bleibt geheimnisumwoben. Wir kennen sein Sterbedatum nicht, über das sogar die Gemeinschaft der Ornithologen spekuliert. 1949 besucht ihn sein 20jähriger Neffe
Peter Enterlein, Sohn seiner jüngsten Schwester
Margarethe, die nach dem Krieg in Hamburg gemeldet ist und 1959 ebenfalls eine Reise nach São Paulo unternimmt. 1955 wird Peter eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für Brasilien ausgestellt, aus der hervorgeht, dass er in der
Emil Kaempfer & Cia seines Onkels arbeitet. Ein rezenter Fund [siehe die Anm. 13 in:
Emil und der Kaempferspecht] belegt, dass auch Margarethe eine sog. "Mischehe" mit Paul Enterlein eingegangen ist.
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Rätselhaft ist ebenfalls das Ausharren von Georg und seiner Familie in Saarbrücken und Halle zur Nazizeit, obwohl doch die Maßnahmen gegen die jüdische Gemeinde immer brutaler wurden. War ihre Auswanderung unmöglich? Wollten sie wie so viele ihre Heimat nicht aufgeben? Hofften sie auf ein baldiges Ende des Terrors? Aber warum ist dann die älteste Tochter Inge – wahrscheinlich kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges – nach Frankreich geflohen?
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In diesem Zusammenhang habe ich erst vor kurzem die Spur einer am 23. Oktober 1902 in Breslau geborenen Tochter von Sigismund und Hedwig Deutsch, also einer Schwester von Georg gefunden, die 1935 oder später von Hamburg nach New York gekommen ist und allem Anschein nach bei ihrer Einwanderung von Georgs Bruder Hugo (1869-1952) unterstützt wurde. Der Onkel war schon 1886 von Posen in die USA ausgewandert und lebte 1940 mit seiner Familie in Mount Vernon City bei New York, wo er anscheinend auch seiner Nichte ein Quartier als Hausdame bei einer Familie Hagmann beschaffte. Er war es, der den Tod der
Frances Kaempfer am 10. Januar 1943 in der
Jewish Consumption Relief Society (Denver, Colorado) meldete [siehe die Anm. 12 auf
Georgs Seite]. Ich frage mich, warum die Tochter von Sigismund und Hedwig
Deutsch den Namen
Kaempfer trug und wofür der offensichtlich amerikanisierte Vorname
Frances stand. Bei der 1940er Volkszählung gab sie an, verheiratet zu sein und bei ihrem Tod wird sie als "Witwe" geführt. Ist sie eine Scheinehe eingegangen? Aber mit wem? Kein mir bekanntes, in den USA lebendes Familienmitglied ist zwischen 1940 und 1943 gestorben. Und nach meinen bisherigen Ermittlungen hatten Sigismund und Hedwig neben Sohn Helmut (1894-1942) nur eine einzige, 1896 geborene Tochter Ruth, von der ich jedoch nur das vielleicht inkorrekte Geburtsdatum kenne [
Quelle]. Auch ist sie offensichtlich nicht wie ihr Bruder und ihre Mutter nach Theresienstadt deportiert und ermordet worden.
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Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach den genauen Umständen der Verhaftung von Ludwig Kaempfer (1901-1947) durch die Gestapo, seiner Entlassung acht Monate später aus Buchenwald und seiner Flucht nach England kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges. Ferner ist unklar, wie er nach mehreren Jahren der Internierung als enemy alien in Kanada gelebt hat und warum er so früh in Montréal gestorben ist. Überhaupt ist das kurze Leben des Sohns von Paula und Gustav ziemlich mysteriös. Er hat ohne Zweifel die 1925 in den Abwehrblättern erschienene kritische Buchbesprechung über Hitlers Mein Kampf verfasst. Allerdings wird ihm die Autorenschaft dieses heute noch zitierten Artikels aus einem unzutreffenden Grund aberkannt und zudem attestiert Yad Vashem fälschlicherweise seine Ermordung in Buchenwald (9).
Conclusio
Wenn ich diese, Georg Kaempfer geschuldete Recherche in ihrer jetzigen Form betrachte, meine ich, einige Sachen klargestellt zu haben. Da jedoch viele Fragen offen bleiben, ist auch keine Konklusion im strengen Sinne möglich. Sie würde nur durch Spekulationen und Mystifikationen die Lücken stopfen, die wie ein Abgrund in dieser Familiengeschichte klaffen. Nur durch die Befragung der Nachkommen oder Auffindung von Briefen und anderen persönlichen Dokumenten könnten wir hier etwas mehr erfahren. Nun sind Familiengeschichten gar oft Legenden, die aus einer ethischen Bewertung und Idealisierung a posteriori entstehen. Man kann sie mit dem Archetypus dieser Erzählform – der Odyssee – vergleichen. Darin ist die Rede von Heldentum, Exil, Widerstand, List und Heimkehr. Aber die Sache kann auch umgekehrt und das Opfertum in den Vordergrund gestellt werden. Im wirklichen Leben jedoch gibt es hier wie dort eine Grauzone, die es wider aller – negativer oder positiver – Verklärung zu erforschen gilt. Dabei ist das binäre Täter-Opfer-Schema nicht hilfreich, wenngleich es erwiesene Opfer und Täter gibt. Aber die sind ja bekannt: Von ihnen erzählt die "Große Geschichte", die so oft das Alltagsleben und die Verstrickungen der einzelnen Menschen vergisst (10).
Am Ende dieser Recherche bleibt das Leben von Georg Kaempfer und seiner Familie weiterhin rätselhaft: Warum ist er bis zum 28. September 1939 in Saarbrücken und nach der Zwangsumsiedlung bis zum fatalen 1. Juni 1942 in Halle geblieben? Glaubte er auch nach der Zerstörung der Saarbrücker Synagoge im November 1938 noch an eine Änderung der Verhältnisse? Aber wenn Herta, Evelyne, Marion und er in Deutschland ausgeharrt haben, warum ist dann die älteste Tochter Ingeborg geflohen? Unter dem Namen Ilana Warenhaupt hat sie bis 1977 in Israel gelebt. Über ihre Nachkommen wäre es vielleicht möglich, eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten. Immerhin: Auf der Suche nach Georg haben wir seine weitverzweigte Familie – die "Posener Kaempfers" – kennen gelernt. Und wir haben ein Bild von ihm gefunden. Es stammt bestimmt noch aus der guten alten Zeit:
Was aber bleibt von damals im Vergleich zur heutigen Flut persönlicher Daten: hier ein Foto, dort eine Geburts- oder Heiratsurkunde, eine Adresse und Berufsbezeichnung, bisweilen ein Grabstein? Was bleibt von den Bindungen, die man "Familie" nennt? – Die Vorfahren aus Wreschen und Posen waren zumeist Kaufleute: Tuch- und Spezereiwarenhändler (Adolph Phillip), Kurzwarenhändler und Pfandleiher (Isaac), Buchhalter und Kommisionnär (Paul), Schneidermeister (Cohn) und Weißwarenhändler (Louis). Dank der lukrativen Geschäfte der Väter konnten einige Söhne studieren und sogar promovieren (Felix, Gustav, David), andere verdingten sich weiterhin als Kaufleute an den verschiedensten Orten: Bürsten und Scheuertücher in Berlin (Louis), Trikotware (bonneterie) in Saarbrücken (Georg), Beinbekleidung (hosiery) in Manhattan (Max), Textilien (dry goods) in Brooklyn und Zigarren (cigar manufacturing) in Queens (Jacob), Weinhandlung in San Francisco (Moritz / Morris), metallverarbeitende Werkzeuge in São Paulo (Emil). Waren es die berühmten "geschäftlichen Beziehungen" die einerseits die Verbindungen aufrechterhielten und sie andrerseits durch den zermürbenden Konkurrenzkampf strapazierten? Waren es die sogenannten "Mischehen", die dem jüdischen Partner das Überleben in Zeiten des Rassenwahns ermöglichten, ihn aber gleichzeitig von den Traditionen abschnitten, die den Zusammenhalt der Wreschener und Posener Familien gewährleistet hatten?
Anstelle eines Nachwortes
Im massiven Trauma des "Großen Krieges" ging die Alte Welt unter, und mit ihr die Heimat in der Provinz Posen. Die Russische Revolution erweckte bei den einen, die Weimarer Republik bei anderen neue Hoffnungen, doch sehr bald machten sich Diktaturen breit und die Bevölkerung wurde von den neuen Herrschaftskasten terrorisiert, bis diese knapp ein Vierteljahrhundert nach den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges einen industriellen Massenmord entfachten, wie ihn die Menschheit noch nie gesehen, ja nicht einmal für möglich gehalten hatte. – Unter diesen Umständen gab es zwar Solidarität, aber im Endeffekt musste jeder Bedrohte sehen, wo er blieb, wie er sich mit dem Regime arrangieren, fliehen oder untertauchen konnte. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass dabei die Familienbeziehungen auf einen harten Prüfstein gestellt wurden. Verdrängung, Indifferenz und vor allem maßlose Angst bestimmten das Verhalten desjenigen Teils der Bevölkerung, der dem neuen Regime zwar nicht zugejubelt, es aber auch nicht von vornherein verdammt hatte. Nur wenige hatten den Mut, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um anderen – Bekannten oder Unbekannten – zu helfen, wie der schon erwähnte Cäsar Hartbrot in Berlin-Hermsdorf [siehe:
Johanna und die Berliner].
Aber wie konnten so große Menschenmengen in den Tod getrieben werden, ohne dass sie revoltierten? Es gab zwar Aufstände im Warschauer Ghetto, in Treblinka, in Sobibór und zahlreiche Widerstandsbewegungen überall in Europa, aber erst die britisch-amerikanischen und sowjetischen Armeen setzten der Naziherrschaft ein Ende, die im Zuge des von ihr entfachten Weltkrieges zwischen 55 und (nach neuesten Schätzungen) 65 Millionen Opfer gefordert hat: Schier unvorstellbare Zahlen! – Das Verhalten der Deportierten wird so erklärt, dass sie bis zuletzt nicht wussten, was sie erwartet. Aber ich bin sicher, dass sie es ahnten. Als sie in den Todeslagern ankamen, war es zu spät. Und vorher? Wenige konnten sich retten: In Paris habe ich einen Fotografen namens Hans Rosenblum ("Jean Rose") aus Preßburg (heute Bratislava) kennen gelernt, der rechtzeitig aus einem Güterzug gesprungen ist (11). Es wird berichtet, dass es zahlreiche Selbstmorde auf dem Weg zu den "Sammelstellen" gab. Und anstatt sich dort einzufinden, sind einige untergetaucht: In Berlin sollen es 7000 Menschen gewesen sein, von denen 1700 überlebt haben. Unter Ihnen der spätere Fernsehmoderator
Hans Rosenthal (1925-1987).
Wie also konnte so etwas passieren? Historiker antworten mit gelehrten Erklärungsversuchen eines Geschehens, das die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Obwohl Völkermorde seit Urzeiten und auch nach Ende des 2. Weltkrieges bis zum heutigen Tage verübt werden, bleibt die wichtigste Frage offen: Wie konnte es die deutsche Bevölkerung zulassen, dass ihre angestammten Mitbürger zu Millionen von einer wahnwitzigen und brutalen Regierung erpresst, gedemütigt, ausgeplündert, verschleppt und ermordet wurden? Welch absurde Essentialisierungen von Teilen der Bevölkerung, die als "Juden", "Zigeuner", "Kommunisten", "Homosexuelle" stigmatisiert und ausgegrenzt wurden, wie viele propagandistische Lügen waren nötig, um das biedere deutsche Volk derart gefügig und hörig zu machen? – Natürlich spielten die späte Deutsche Einheit (1871), die Reflexe des Obrigkeitsstaates und die darauf folgende als "Chaos" empfundene Zeit der Weimarer Republik, die Auflagen des Versailler Vertrages, die Wirtschaftskrisen und die steigende Arbeitslosenzahl eine Rolle. Hinzu kommt die maßlose politische Naivität sowohl der linken, als der rechten Parteien, die schließlich durch die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie zu einer präzedenzlosen totalitären Herrschaft geführt hat (12).
Man merkt aber, dass all diese Faktoren und gravierenden Umstände keine befriedigende Antwort auf unsere Frage geben, auch wenn man die vergangenen und zeitgenössischen, auf allen Kontinenten dieser Erde verübten Völkermorde, oder den Territorialismus der Sesshaften und ihren Hass auf die Nomaden, die Besitz- und Heimatlosen, die "Andersartigen", sowie den sich als roter Faden durch die Menschheitsgeschichte ziehenden kriegerischen Raub fremden Landes und die damit einhergehenden Überlegenheitsideologien und größenwahnsinnigen Rationalisierungen betrachtet. Der von den Nazis systematisch durchgeführte, industriell betriebene Massenmord und die Haltung eines beträchtlichen Teils der deutschen Bevölkerung, die zwar nicht unmittelbar daran beteiligt gewesen ist, der aber durch ihre wie auch immer begründete Indifferenz oder stillschweigende Duldung zumindest "unterlassene Hilfeleistung" vorgeworden werden könnte, bleibt unerklärlich, vielleicht sogar unerklärbar. Allerdings sollte hier die von den Nazis praktizierte Essentialisierung des "Deutschen Volkes" nicht wiederholt werden. In Zeiten der Gewaltherrschaft werden die meisten Menschen überall auf der Erde mürbe und gefügig gemacht. Auch der so genannte "Antisemitismus" (13) ist keine deutsche Erfindung, sondern das Resultat einer jahrhundertelangen, wenn nicht tausendjährigen christlich-abendländischen Entwicklung. Dies soll keineswegs als Entschuldigung gelten, sondern verleiht unserer Frage eine zusätzliche Dimension: Wie konnte ein so bestialischer Ausbruch auf deutschem Boden stattfinden? Als Mein Kampf erschien, schrieb Ludwig Kaempfer voller Zuversicht (14):
"Man legt Hitlers Buch mit einem Gefühl der Befriedigung beiseite: Solange die völkische Bewegung keine anderen Führer an ihre Spitze zu stellen weiß, solange werden noch manche Wasser ins Meer fließen, bis sie im Land der Dichter und Denker siegen wird."
Acht Jahre später war es dann soweit.
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Anmerkungen
(1) Hugo lebte bis 1952 mit seiner Familie in einem New Yorker Vorort (Mount Vernon City). Emils Sterbedatum ist derzeit nicht bekannt, jedoch hatte er nach dem Krieg (1947) eine Geschäftsreise in die USA unternommen. Der Beweggrund der Reise seiner Schwester Margarethe Enterlein im Jahr 1959 nach Brasilien, wo ihr Sohn Peter seit 1949 im Geschäft des Onkels mitarbeitete, könnte hier weiterhelfen. Zur Zeit aber können wir darüber nur spekulieren.
(2) Dazu dieser Beleg aus dem "Archiv der Breslauer Synagogengemeinde" (um 1930) [
hier]:
(3) Ein neuerer Fund bestätigt, dass Hugo (1869-1952) geholfen hat. Er stand offentsichtlich einer Tochter von Georgs Schwester Hedwig bei ihrer Einwanderung aus Hamburg (1935 oder später) und ihrer Etablierung in den USA zur Seite. Siehe dazu die Anm. 12 der "
Suche nach Georg". Diese Information bezeugt auch, dass die Familien zur Nazizeit in Kontakt waren.
(4) Mein Vater erzählt seine Kriegszeit im 2. Teil des Interviews, das ich 2008 mit ihm geführt habe. Dieser Teil unseres Gesprächs ist äußerst interessant:
https://vimeo.com/191357064
(5)
Diese noch ausstehende kritische Analyse ist eine Arbeit für sich und würde den Rahmen der vorliegenden Recherche sprengen. Hinzu kommt, dass eventuelle Befunde oder Resultate auf keinen Fall die Beweiskraft und den Stellenwert eines offiziellen Dokuments oder auch nur eines Briefes haben.
(6) 1898 kam dann in Berlin die jüngste Schwester Margarethe zur Welt. Auch sie war 1929 in der Stadt, als sie ihren Sohn Peter Enterlein bekam [siehe: Emil und der Kaempferspecht]. Und 1931 erscheint sie m. E. noch als Grete Kaempfer im „Jüdischen Adressbuch“ bei Mutter Anna in der Witzlebenstraße 12a, wo auch ihr Bruder Hans gemeldet ist, der bis 1933 unter der gleichen Adresse im BAB steht [siehe: Johanna und die Berliner].
(7) Siehe hierzu die Ausführungen von Gerhard und mein Kommentar unter
: David Kaempfer
(8) Diese Bemerkungen sollten nicht als moralische, sondern nur als sachliche Kritik an Gerhards stellenweise sehr aufschlussreichem Familienbericht verstanden werden. Es erhellt daraus lediglich, dass auch in der Nachkriegszeit noch Spuren der rassistischen Nazi-Genealogie zu finden sind, die hier trotz des Zusatzes „nach den Nürnberger Gesetzen“ mitschwingen, ohne dass dies dem Autor bewusst ist. Auch vermischt Gerhard Informationen und Spekulationen, wenn er schreibt:
Bemerkenswert sind die Ausdrücke "Mischehe" und "jüdische Taufe". Letzterer verrät die Unkenntnis der jüdischen Religion...
(9) Ich habe der Gedenkstätte eine Nachricht geschrieben, um eine Korrektur des Eintrags zu erwirken.
(10) An dieser Stelle sei ein kurzer philosophischer Exkurs gestattet: Martin Heidegger (1889-1976), NSDAP-Mitglied von 1933 bis 1945, konstruiert eine "ontologische Differenz" zwischen dem negativ bewerteten "alltäglichen Dasein" der Menschen und ihrer "eigentlichen Existenz", der er ein höchst suspektes "Sein zum Tode" zuspricht (*). Der dazugehörige Begriff der "Entscheidung" spielt in seiner "Existenzial-Ontologie" eine führende Rolle. Ein geübtes Auge erkennt darin ein Stück dezisionistischer Nazi-Ideologie (wie z.B. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958). Auf dem "ontologisch" fundierten Boden dieser "Differenz" konnte dem "alltäglichen Dasein" jede Persönlichkeit, jede "Eigentlichkeit" – und ipso facto jede "Entscheidung", jeder Widerstand gegen das Regime – abgesprochen werden, um schließlich dem vom Deutschen Staat bar jeder Vernunft und Menschlichkeit organisierten "Sein zum Tode" zum Opfer zu fallen. Dafür hatte auch Heideggers Abkehr vom modernen Subjekt des Humanismus und der Menschenrechte bedeutende ideologische Vorarbeit geleistet.
(*) Die Ausdrücke in Anführungszeichen stammen zumeist aus seinem Hauptwerk Sein und Zeit, erschienen 1927 im 8. Band des von seinem Lehrmeister Edmund Husserl (1859-1938) herausgegebenen Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung. Heideggers Freiburger Rektoratsrede (27. Mai 1933) knüpft zum Teil an diese – und in Was ist Metaphysik? (1929) zusammengefassten – Gedanken an. Der Nazismus von Heidegger ist erwiesen, wenn auch hier eine Grauzone bestehen mag. – Für das "Sein zum Tode" steht der Totenkopf der SS-Schergen. Und in der Nazizeit gab es Todeskandidaten en masse. Ob die Willigen unter ihnen Sein und Zeit gelesen haben, bleibe jedoch dahingestellt...
(11) Es könnte sein, dass er als
Jano Rosenblum in einem englischsprachigen Bericht über das Leben von
Abraham Pressburger erscheint [
hier]. Ich glaube mich zu erinnern, dass er sich in Wäldern und Bergen versteckt hielt, bevor er (wohl erst nach dem Krieg) nach Paris kam, wo er in der
Rue du Château d'Eau einen kleinen Fotoladen (
Photo Jeanrose) hatte. Er träumte von einem Opernfilm über namhafte Komponisten, die sich im Himmel begegneten...
(12) Ich erinnere an die Wahlergebnisse der letzten freien Wahlen im November 1932:
Somit erhielt die NSDAP ein Drittel der abgegebenen Simmen (mit einem Verlust von 4,2% im Vergleich zu Juli 1932). KPD und SPD lagen zusammen bei 37,3%. Wie erst vor kurzem bekannt wurde, verbat Moskau der deutschen KPD kategorisch, eine Koalition mit der SPD einzugehen. Auf Seiten der Rechten dachte man, H. im Zaum halten oder sogar unschädlich machen zu können, was sich schon 1933 und spätestens 1934 als schlimmste Fehlkalkulation in der Geschichte der Demokratie herausstellen sollte. Es ist hier nicht der Ort den Aufschwung der "National-
Sozialistischen Arbeiterpartei" zu besprechen, die erst 1930 auf einen Stimmanteil von 18,3% kam (1928: 2,6%) und deren Zuwachs auch mit der explodierenden Arbeitslosenzahl zusammenhängt (1928: 1,5 Mio, 1930: 3 Mio, 1932: 5,5 Mio).
(13) Der semantisch inkonsistente Ausdruck "Antisemitismus" wurde sehr
wahrscheinlich von dem deutschen Journalisten Wilhelm Marr (1819-1904) geprägt,
der 1879 die "Antisemitenliga" in Berlin gründete. Einer der Höhepunkte der
Hetze gegen die Bürger der jüdischen Gemeinden um die Jahrhundertwende war ohne
Zweifel die "Dreyfus-Affäre".
(14) In den
Abwehrblättern 35.Jg.Nr. 19/20 vom 20.10.1925 [
pdf].
Stefan Kaempfer, Februar 2020